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Prof. Dr. jur. Holger Hoffmann FH Bielefeld holger.hoffmann@fh‐bielefeld.de Europäische Entwicklungen im Flüchtlingsrecht Juni – Oktober 2019 Themenübersicht Seite A. Rechtsprechung 3 I. EGMR‐Entscheidungen 3 1. Hinweise 3 a) Neue deutsche Richterin 3 b) „Update“ des EGMR zu Art. 1 EMRK – 31.08.2019 3 c) Verfahrensmitteilungen zu asylrechtlichen Verfahren 3 (Entscheidungen liegen noch nicht vor): ‐ 74048/17 – Totopa ./. Spanien 3 ‐ 45582/18 – Z.H. ./. Niederlande 3 ‐ 49259/18 – M.J. ./.Niederlande 3 ‐ 18568/19 – Jafari ./. Schweden 3 II. EuGH – Vorabentscheidungsersuchen und Schlussanträge 4 1. EuGH, Schlussanträge Sharpston vom 31.10.2019 – C‐715/17; C‐718/17; C‐719/17 4 2. 25.03.2019 – C‐250/19 Familienzusammenführung und Dublin III – Conseil d’État (Belgien) – B. O. L./État belge (ABl 27.05.2019 – C 182) 6 3. 23.04.2019 – C‐322/19 – High Court Irland. Hauptthema: Besteht ein Recht zu arbeiten während der Zeit, in der auf eine Entscheidung im Dublin Verfahren gewartet wird? 6 4. C‐519/18 – 05.09.2019 Schlussantrag Generalanwalt Pitruzzella zum Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bír óság (Ungarn) 7 5. VG Hannover – 4 A 3526/17 zur Wehrdienstverweigerung in Syrien 7 6. BVerwG Beschl. v. 15.08.2019, Az. 1 C 32.18 (Az. des EuGH noch nicht veröffentlicht) 9 III. Andere Gerichte und Entscheidungskomitees 9 1. 16. August 2019 ‐ United Nations Committee against Torture (UNCAT): Die Rückführung eines Antragstellers mit kurdischer Volkszugehörigkeit in die Türkei durch Serbien verletzt die UN‐Konvention gegen Folter 9 2. UN Komitee zur Kinderrechtskonvention 4/2016 (D.D. ./. Spanien) 01.02.2019 zu den Rechten unbegleiteter Minderjähriger bei Abschiebungen aus Melilla 10 3. VG München, Beschluss v. 17.07.2019 – M 11 S 19.50722, M 11 S 19.50759: Kettenabschiebungen Griechenland – Türkei – Afghanistan 11 4. VG München ‐ Beschluss vom 08.08.2019 – M 18 E 19.32238: Vorläufige Rückholung aus Griechenland nach Einreiseverweigerung und Rückführung aufgrund des "Seehofer‐Abkommens" 12 5. 12. Juli 2019 – E 3078/2019 – schweizerisches Bundesverwaltungsgericht: aufschiebende Wirkung in einem Verfahren auf Rückführung gemäß Dublin III nach Kroatien 13 6. 20.08.2019 – Distriktgericht Den Haag: aufschiebende Wirkung gegen einen Dublin Transfer für ein unbegleitetes minderjähriges Kind und seinen Bruder bis zu einer Feststellung, ob das Kindeswohl bei einer Rückführung gewahrt werde 13 7. 15. Juli 2019 – niederländischer Staatsrat: Aufschub einer Rückübernahme – Entscheidung aus den Niederlanden nach Griechenland für eine alleinerziehende Mutter und ihre Tochter, die asylrechtlichen Schutz in Griechenland erhalten hatten, aber als vulnerable Personen eingestuft worden waren 14 B. Politische Entwicklungen 15 I. Erstinstanzliche Behörden – Asyl – Entscheidungen in Europa – Jan. – Juni 2019 15 II. Programm der finnischen Ratspräsidentschaft, Parlamentswahlen, neue EU‐Kommission 15 III. Aktivitäten der bisherigen EU‐Kommission – insbes.: Fortschrittsbericht 16.10.2019 16 1. Fortschritte 17 2. Östliche Mittelmeerroute/insbes. Griechenland 18 3. Westbalkanroute 20 4. Zentrale Mittelmeerroute 20 5. Westliche Mittelmeerroute/Atlantikroute 21 6. Bekämpfung von Schleusungen 22 7. Rückführung, Rückkehr, Rückübernahme 22 8. Verstärktes Außengrenzenkonzept 23 IV. Malta‐Vereinbarung zur Seenotrettung 23 V. Türkei und EU 24 VI. Schlussbemerkung 25 - 3- A. Rechtsprechung I. EGMR‐Entscheidungen Hinweise: a) Neue deutsche Richterin: Prof. Dr. Anja Seibert‐Fohr wird Anfang 2020 Prof. Angelika Nußberger als neue deutsche Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ablösen. Am 27. Juni 2019 wurde sie von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zur neuen Richterin am EGMR gewählt. Von 2013 bis 2017 war sie Mitglied des Menschenrechtsausschusses der UNO. Seit 2016 hat sie den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Menschenrechte an der Uni Heidelberg. b) „Update“ des EGMR zu Art. 1 EMRK – 31.08. 2019 Der EGMR hat den Leitfaden (ca. 30 S.) zur Interpretation von Art. 1 der die EMRK überarbeitet im Hinblick auf die Verpflichtung der Mitgliedstaaten des Europarates, die Menschenrechte stärker zu beachten, insbesondere die Verpflichtung zu beachten, Menschenrechte im Rahmen der nationalen Rechtsprechung (Gerichtsbarkeit und Zurechenbarkeit) zu berücksichtigen. Die Überarbeitung präsentiert einzelne EGMR‐Entscheidungen bezüglich des Territorialprinzips, insbesondere eine Einschätzung der Beziehungen von Art. 1 und 56 EMRK und Links zur Rechtsprechung des EGMR in Zivil‐ und Strafverfahren (offizieller Text auf Englisch: https://www.echr.coe.int › Guide_Art_1_ENG). c) Verfahrensmitteilungen zu asylrechtlichen Verfahren (Entscheidungen liegen noch nicht vor) 74048/17 – Totopa ./. Spanien: The applicant is an Ivorian national. On 23 March 2017, the applicant’s son and sister (the child’s aunt) tried to enter Spain by sea from Morocco. They were rescued by the Spanish authorities and transferred to Melilla. The child and his aunt were separated upon arrival, and the aunt was later transferred to the mainland. On 17 April 2017, the applicant tried to enter Spain by boat and was rescued and brought to the Spanish mainland. Between 17 April 2017 and 13 November 2017, the applicant remained separated from her son in Melilla and applications for reunification were refused. The applicant complains that this separation violated Article 8 ECHR, and the lack of an effective remedy in this regard was a violation of Article 13 ECHR. 45582/18 – Z.H. ./. Niederlande: The applicant is an Afghan national. She applied for asylum in the Netherlands in 2017 and her application was refused on the grounds that it was not believed she was threatened by the Taliban. The applicant complains under Article 3 that if expelled to Afghanistan she will be at risk of ill treatment because she is a Westernised woman who was formerly employed by a foreign NGO. 49259/18 – M.J. /.Niederlande: The applicant is an Afghan national from Laghman province. In 2015, he applied for asylum in the Netherlands. The application was refused as it was found that an internal protection alternative was available in Kabul. The applicant complains under Article 3 that no internal protection alternative exists in Kabul. He further complains under Article 13, taken in conjunction with Article 3, regarding the lack of access to an effective remedy. 18568/19 – Jafari ./. Schweden: The application concerns an Afghan national who applied for a residence permit in Sweden on account of family ties to his father and two brothers. His application was rejected on the grounds that he had not sufficiently substantiated his identity. The applicant complains that the Swedish authorities’ refusal to grant him a residency permit violated his right to respect for family life as guaranteed by Article 8 of the Convention. - 4 - II. EuGH – Vorabentscheidungsersuchen und Schlussanträge 1. EuGH, Schlussanträge Sharpston vom 31.10.2019 – C‐715/17; C‐718/17; C‐719/17 Nach Auffassung der Generalanwältin Sharpston haben Polen, Ungarn und die Tschechische Republik durch ihre Weigerung, den vorläufigen und zeitlich begrenzten obligatorischen Umsiedlungsmechanismus für Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, umzusetzen, gegen ihre Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen. Dies geht aus ihren Schlussanträgen vom 31.10.2019 hervor. Die Länder seien nicht befugt, unter Berufung auf ihre Zuständigkeiten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit die Anwendung einer rechtsgültigen Unionsmaßnahme abzulehnen (Az.: C‐715/17, C‐718/17 und C‐719/17). Die drei Länder hätten wegen mangelnder Solidarität in der Flüchtlingskrise gegen EU‐Recht verstoßen. Sie hätten sich nicht weigern dürfen, den Beschluss zur Umverteilung syrischer und anderer Asylbewerber aus Griechenland und Italien umzusetzen. Polen und Ungarn haben nach Zahlen der Kommission keinen Flüchtling im Rahmen der Beschlüsse aufgenommen, Tschechien zwölf. Als Reaktion auf den Zustrom von Flüchtlingen im Sommer 2015 erließ der Rat der EU zwei „Umsiedlungsbeschlüsse“, um Italien und Griechenland bei der Bewältigung zu unterstützen. Beide Beschlüsse enthielten detaillierte Vorkehrungen für die Umsiedlung von 40.000 bzw. 120.000 Personen, die internationalen Schutz beantragt hatten. Klagen der Slowakei und Ungarns gegen einen dieser Beschlüsse blieben erfolglos. Mit Urteil vom 06.09.2017 (NVwZ 2018, 391) wies der Gerichtshof die Klagen ab. Er führte insbesondere aus, dass der Mechanismus tatsächlich dazu beitrug, dass Griechenland und Italien die Folgen der Flüchtlingskrise von 2015 bewältigen konnten, und dass er erforderlich und verhältnismäßig war. Im Dezember 2017 erhob die Kommission vor dem EuGH Vertragsverletzungsklagen gegen Polen (Az. C‐ 715/17), Ungarn (Az. C‐718/17) und die Tschechische Republik (Az. C‐719/17). In diesen Parallelverfahren macht die Kommission geltend, die Beklagten seien ihren Verpflichtungen aus Art. 5 Abs. 2 der Umsiedlungsbeschlüsse, Zusagen in Bezug auf die Zahl der Antragsteller zu geben, die in ihr Hoheitsgebiet umgesiedelt werden könnten, nicht nachgekommen. Sie hätten infolgedessen auch ihre Verpflichtungen aus Art. 5 Abs. 4 bis 11 verletzt, durch die Umsiedlung in ihr Hoheitsgebiet und die anschließende inhaltliche Prüfung der Anträge Italien und Griechenland zu unterstützen. Auf das Argument der Mitgliedstaaten, dass die Befolgung der Umsiedlungsbeschlüsse sie gehindert hätte, ihre ausschließlichen Zuständigkeiten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit (Art. 72 AEUV) wahrzunehmen, wies Sharpston darauf hin, dass nach den Umsiedlungsbeschlüssen der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung während des gesamten Umsiedlungsverfahrens bis zum Abschluss der Überstellung des Antragstellers Rechnung getragen werden sollte und dass diese Beschlüsse den MS ausdrücklich das Recht vorbehielten, die Umsiedlung abzulehnen, sofern berechtigte Gründe dafür vorlägen, Flüchtlinge als Gefahr für ihre nationale Sicherheit oder ihre öffentliche Ordnung zu betrachten. Dem Vorwurf, der vorgesehene Mechanismus sei ineffizient, da er die Mitgliedstaaten verpflichte, zahlreiche Personen binnen kurzer Zeit zu überprüfen, hielt sie entgegen, dass derartige praktische Schwierigkeiten diesem Mechanismus nicht inhärent seien und gegebenenfalls im Geist der Zusammenarbeit und des gegenseitigen Vertrauens der Behörden der durch die Umsiedlung begünstigten Mitgliedstaaten und der Behörden der Umsiedlungsmitgliedstaaten, der im Rahmen der Umsetzung des Umsiedlungsverfahrens vorherrschen müsse, zu lösen seien. Es sei den drei beklagten Mitgliedstaaten daher ohne weiteres möglich gewesen, die Sicherheit und das Wohlergehen ihrer Bürger dadurch zu schützen, dass sie sich (auf der Grundlage der Umsiedlungsbeschlüsse selbst) in Wahrnehmung ihrer - 5 - Zuständigkeiten "für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit" weigerten, einen bestimmten Antragsteller zu übernehmen. Überdies stelle das sekundäre Unionsrecht im Asylbereich einen geeigneten rechtlichen Rahmen zur Verfügung, innerhalb dessen den legitimen Bedenken eines Mitgliedstaats in Bezug auf die nationale Sicherheit, die öffentliche Ordnung und den Schutz der Gesellschaft, die einen konkreten Antragsteller beträfen, Rechnung getragen werden könne. Somit biete das Unionsrecht den MS geeignete Mittel, ihre legitimen Interessen im Bereich der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung in Bezug auf konkrete Antragsteller innerhalb des Rahmens ihrer unionsrechtlichen Verpflichtungen zu wahren. Unionsrecht gestatte es einem MS aber nicht, diese Verpflichtungen kategorisch außer Acht zu lassen. Das legitime Interesse der Mitgliedstaaten an der Bewahrung des sozialen und kulturellen Zusammenhalts könne zudem durch andere, weniger restriktive Mittel als eine einseitige und vollständige Weigerung, ihren unionsrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen, wirksamer geschützt werden. Die Generalanwältin wies weiter das Argument zurück, dass die mit der Bearbeitung einer Vielzahl von Anträgen verbundenen Gefahren die drei beklagten MS ihrer Rechtspflicht enthöben, sich an den durch die Umsiedlungsbeschlüsse eingeführten Maßnahmen zu beteiligen. Sie hob hervor, dass das die Umsiedlungsbeschlüsse einen geeigneten Mechanismus für die Bewältigung der komplexen Fragen und der Logistik im Rahmen der Umsiedlung einer sehr großen Zahl von Antragstellern aus den Mitgliedstaaten an den Außengrenzen in andere Mitgliedstaaten geboten habe. Es sei daher nicht angebracht, die Beschlüsse selbst als "dysfunktional" zu bezeichnen. In einer klaren Notsituation seien sowohl die MS an den Außengrenzen als auch die potenziellen UmsiedlungsMS für eine angemessene Umsetzung dieses Mechanismus verantwortlich gewesen, die gewährleiste, dass eine ausreichende Zahl von Umsiedlungen stattfinde, um den unerträglichen Druck, der auf den MS an den Außengrenzen laste, zu mildern. Hinzu komme, dass nach den Angaben in einer Reihe von Berichten über die Umsetzung der Umsiedlungsbeschlüsse bei anderen MS, die Probleme mit ihren Umsiedlungsverpflichtungen gehabt hätten, diese Verpflichtungen auf ihren Antrag zeitweilig ausgesetzt worden seien. Wenn die drei beklagten MS tatsächlich auf erhebliche Schwierigkeiten gestoßen seien, wäre dies – und nicht ihre einseitige Entscheidung, die Beschlüsse nicht umzusetzen – eindeutig die gebotene Vorgehensweise gewesen, um dem Grundsatz der Solidarität Genüge zu tun. In ihren Schlussbemerkungen befasste sich die Generalanwältin mit drei wichtigen Facetten der Unionsrechtsordnung: der Rechtsstaatlichkeit, der Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit und dem Grundsatz der Solidarität. Sie hob hervor, dass die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit die Erfüllung der eigenen Rechtspflichten impliziere. Eine Missachtung dieser Pflichten, weil sie im konkreten Fall unwillkommen oder unpopulär seien, sei ein gefährlicher erster Schritt hin zum Zusammenbruch einer der Rechtsstaatlichkeit verpflichteten geordneten und strukturierten Gesellschaft. Wenn ein MS selbst ein schlechtes Beispiel abgebe, sei dies besonders schlimm. Außerdem dürfe nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit jeder MS erwarten, dass andere MS ihren Pflichten mit der gebührenden Sorgfalt nachkämen. Schließlich sei mit dem Grundsatz der Solidarität zwangsläufig die Bereitschaft verbunden, bisweilen Lasten zu teilen. Die polnische Regierung beharrt auch nach Veröffentlichung der Schlußanträge auf ihrer Position. Diese sei durch den EU‐Vertrag gedeckt. "Unsere Handlungen wurden bestimmt von den Interessen der polnischen Bürger und dem Schutz vor unkontrollierter Migration", sagte der Regierungssprecher. Auch dank der harten Haltung Polens und der übrigen Visegrad‐Staaten habe die EU ihren Umgang mit der Flüchtlingsfrage geändert und von der Umverteilung Abstand genommen. - 6 - 2. 25.03.2019 – C‐250/19 Vorabentscheidungsersuchen zu Familienzusammenführung und Dublin III – Conseil d’État (Belgien) – B. O. L./État belge (ABl 27.05.2019 – C 182) 1. Ist Art. 4 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (1) – damit die Effektivität des Rechts der Europäischen Union gewährleistet und die Geltendmachung des der Rechtsmittelführerin ihrer Ansicht nach durch diese Vorschrift gewährten Rechts auf Familienzusammenführung nicht unmöglich gemacht wird – dahin auszulegen, dass das Kind des Zusammenführenden das Recht auf Familienzusammenführung geltend machen kann, wenn es im Lauf des Gerichtsverfahrens volljährig wird, das gegen den Bescheid eingeleitet wird, mit dem ihm dieses Recht verweigert wird und der erlassen wurde, als es noch minderjährig war? 2. Sind Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 18 der Richtlinie 2003/86/EG dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass die Nichtigkeitsklage, die ein minderjähriges Kind gegen die Verweigerung eines Rechts auf Familienzusammenführung erhebt, mit der Begründung für unzulässig erklärt wird, das Kind sei im Lauf des Gerichtsverfahrens volljährig geworden, da ihm die Möglichkeit, dass über seine gegen diese Entscheidung gerichtete Klage entschieden wird, genommen und sein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf verletzt würde? 3. 23.04.2019 – C‐322/19 – Vorabentscheidungsersuchen des High Court (Irland), KS, MHK/International Protection Appeals Tribunal, Minister for Justice and Equality, Irland und Attorney General. Hauptthema: Besteht ein Recht zu arbeiten während der Zeit, in der die Entscheidung im Dublin Verfahren gewartet wird. Vorlagefragen: Darf bei der Auslegung eines Rechtsakts der Union, der in einem bestimmten Mitgliedstaat Anwendung findet, ein Rechtsakt herangezogen werden, der zur gleichen Zeit erlassen wurde, in dem betreffenden Mitgliedstaat aber keine Anwendung findet? Findet Art. 15 der Aufnahmerichtlinie (Neufassung) 2013/33/EU1 auf eine Person Anwendung, in Bezug auf die eine Überstellungentscheidung nach der Dublin‐III‐Verordnung – Verordnung (EU) Nr. 604/20132 – ergangen ist? Darf ein Mitgliedstaat bei der Umsetzung von Art. 15 der Aufnahmerichtlinie (Neufassung) 2013/33/EU eine allgemeine Maßnahme erlassen, die im Ergebnis den Antragstellern, in Bezug auf die eine Überstellungsentscheidung nach der Dublin‐III‐Verordnung – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – ergangen ist, jegliche Verzögerungen bei oder nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung zurechnet? Kann in dem Fall, dass ein Antragsteller einen Mitgliedstaat verlässt, ohne dort einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt zu haben, und in einen anderen Mitgliedstaat reist, in dem er einen solchen Antrag stellt und in dem in Bezug auf ihn nach der Dublin‐III‐Verordnung – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – eine Entscheidung über die Rücküberstellung in den ersten Mitgliedstaat ergeht, die daraus resultierende Verzögerung bei der Bearbeitung des Schutzantrags im Rahmen von Art. 15 der Aufnahmerichtlinie (Neufassung) 2013/33/EU dem Antragsteller zugerechnet werden? Kann in dem Fall, dass in Bezug auf einen Antragsteller eine Überstellungsentscheidung nach der Dublin‐ III‐Verordnung – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – ergangen ist, sich die Überstellung aber wegen eines gerichtlichen Überprüfungsverfahrens verzögert, das der Antragsteller angestrengt hat und infolge dessen das Gericht den Vollzug der Überstellungsentscheidung ausgesetzt hat, die daraus resultierende Verzögerung bei der Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz im Rahmen von Art. 15 der - 7 - Aufnahmerichtlinie (Neufassung) 2013/33/EU dem Antragsteller entweder im Allgemeinen oder insbesondere dann zugerechnet werden, wenn in dem Verfahren festgestellt werden sollte, dass die gerichtliche Überprüfung – offensichtlich oder nicht – unbegründet oder rechtsmissbräuchlich ist? 4. C‐519/18 – 05.09.2019 Schlussantrag Generalanwalt Pitruzzella zum Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bír óság (Ungarn), eingereicht am 7. August 2018 – TB/Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal Das vorlegende Gericht fragt nach dem Umfang des Ermessensspielraums, über den die MS bei der Umsetzung von Art. 10 Abs. 2RL Familienzusammenführung verfügen. Insbesondere wird der EuGH ersucht, anzugeben, inwieweit MS verpflichtet sind, das in dieser Bestimmung festgelegte Zulassungskriterium einzuhalten, das sich auf das Bestehen einer Beziehung zwischen dem betroffenen Familienmitglied und dem Flüchtling bezieht (hier: Familienzusammenführung in Bezug auf die Schwester eines Flüchtlings, beide iranischer Herkunft, die von dem Flüchtling abhängig ist). Fazit des Generalanwaltes: 1. Artikel 10 Absatz 2 der Richtlinie 2003/86 / EG des Rates vom 22. September 2003 über das Recht auf Familienzusammenführung ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat dies zulässt Der in Art. 4 dieser Richtlinie nicht genannte Zusammenschluss anderer Familienangehöriger eines Flüchtlings verpflichtet diesen Staat, die Bedingung der "Abhängigkeit vom Flüchtling" einzuhalten. Die in Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 enthaltene Bedingung der "Abhängigkeit vom Flüchtling" ist dahin auszulegen, dass sich das betroffene Familienmitglied in einer tatsächlichen Situation befindet durch die Tatsache, dass der Flüchtling seine materielle Unterstützung leistet. 2. Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 in Verbindung mit Art. 17 dieser Richtlinie steht einer nationalen Regelung wie derjenigen, um die es im Ausgangsverfahren geht, nicht entgegen der Vorteil der Familienzusammenführung der Schwester eines Flüchtlings, sofern diese von dieser abhängig ist, weil sie aufgrund ihres Gesundheitszustands nicht in der Lage ist, sich selbst zu ernähren, vorausgesetzt, dass die zuständige nationale Behörde den Konsolidierungsantrag einer individuellen Prüfung unterzieht. Diese Behörde muss alle relevanten Elemente des Falls berücksichtigen, wie z. B. die Art und Schwere des Leidens des betroffenen Familienmitglieds sowie den Grad der Verwandtschaft und den Grad der wirtschaftlichen oder körperlichen Abhängigkeit und achten Sie besonders auf die konkrete Situation, in der sich dieses Mitglied in seinem Herkunftsland befindet, und auf die besonderen Schwierigkeiten, mit denen es in Anbetracht seines Geschlechts, Alters und sozialen Status und der Situation konfrontiert sein kann wirtschaftlichen, sozialen und gesundheitlichen Bedingungen in diesem Land. 5. 07.03.2019 – VG Hannover – 4 A 3526/17 zur Wehrdienstverweigerung in Syrien Das VG Hannover fragt den EuGH zur Verfolgung aufgrund von Verweigerung des Militärdienstes, der völkerrechtswidrige Handlungen umfassen würde. Die Auslegungsfragen betreffen Art. 9 Abs. 2 Bst. e der EU‐Qualifikationsrichtlinie und § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG. Sachverhalt: Der Kläger war in Syrien für die Dauer seines Studiums vom Wehrdienst zurückgestellt worden. Kurz vor Ablauf dieser Zurückstellung floh er nach Deutschland und beantragte Asyl. Das BAMF lehnte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ab und gewährte (nur) subsidiären Schutz. Gegen diesen Bescheid klagte der Betroffene. Das VG kommt auf der Grundlage zahlreicher Berichte und UN- - 8 - Resolutionen zu der Überzeugung, dass die syrische Armee "seit Jahren in einem ganz erheblichen Ausmaß an systematischen Kriegsverbrechen beteiligt [ist] und sich hierbei des unmittelbaren und mittelbaren Einsatzes von Wehrpflichtigen bedien[t]." Dementsprechend sei es "hinreichend plausibel", dass Wehrpflichtige auch künftig eine Beteiligung an Kriegsverbrechen zu befürchten hätten. Nach Auswertung der Rechtsprechung hält das VG für nicht geklärt, ob die Situation des Klägers den Voraussetzungen entspreche, die für eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Bst. e QRL erfüllt sein müssen. Deswegen hat das VG dem EuGH fünf Fragen vorgelegt, die sinngemäß lauten: 1. Muss die in Art. 9 Abs. 2 Bst. e QRL genannte "Verweigerung des Militärdienstes" in einem formalisierten Verweigerungsverfahren erfolgen, selbst dann, wenn im Herkunftsstaat ein Recht auf Militärdienstverweigerung nicht vorgesehen ist? 2. Schützt Art. 9 Abs. 2 Bst. e QRL auch Personen, die den Militärdienst nicht (formal) verweigern, sondern sich ihm (hier: bei Ablauf einer Zurückstellung) durch Flucht entziehen? Die dritte Frage ist vor dem Hintergrund der EuGH‐Entscheidung in der Rechtssache "Shepherd gegen Deutschland" zu sehen. Diese Entscheidung sei – so das VG – bislang in der deutschen Rechtsprechung so interpretiert worden, dass es für die Annahme einer möglichen Beteiligung an Kriegsverbrechen nicht ausreiche, wenn "das Militär" insgesamt für solche Verbrechen verantwortlich sei. Vielmehr sei es gem. Rechtsprechung erforderlich, dass die Einheit, in der der Betroffene dienen würde, Kriegsverbrechen begangen hätte oder begehen würde und dass er sich bei der Ableistung seines Dienstes an derartigen Verbrechen beteiligen müsste. Nach dieser Interpretation könnte sich eine Person, die den Wehrdienst noch gar nicht angetreten habe, also grundsätzlich nicht auf die Norm der Art. 9 Abs. 2 Bst. e QRL berufen, da sie noch gar keiner Einheit zugeteilt worden sei. Das VG ist der Auffassung, dass diese Interpretation der EuGH‐Rechtsprechung unzutreffend ist. Der EuGH habe in der Shepherd‐Entscheidung Prämissen aufgestellt, die in anderen Fallkonstellationen zum Tragen kämen und die bislang in der deutschen Rechtsprechung außer Acht gelassen worden seien. Die dritte Frage des VG lautet sinngemäß: 3. Besteht auch für Wehrpflichtige, die ihren künftigen militärischen Einsatzbereich nicht kennen, die Gefahr der Beteiligung an Kriegsverbrechen, weil die Armee insgesamt wiederholt und systematisch Kriegsverbrechen unter Einsatz von Wehrpflichtigen begeht? Die weiteren Fragen des VG betreffen den Zusammenhang von Verfolgungshandlungen und Verfolgungsgrund im Zusammenhang mit Art. 9 Abs. 2 Bst. e QRL. Hierzu geht das VG auf verschiedene mögliche Interpretationen der RL ein, bei denen es darum geht, ob Personen, die die Beteiligung an Kriegsverbrechen verweigern, immer den Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung oder den der "sozialen Gruppe" aufweisen. Vor diesem Hintergrund fragt das VG: 4. Ist auch im Fall der Verfolgung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem völkerrechtswidrigen Konflikt nach Art. 9 Abs. 2 Bst. e QRL für die Flüchtlingseigenschaft Voraussetzung, dass eine Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen und Verfolgungshandlungen besteht? 5. Wenn Frage 4. zu bejahen ist: Ist eine solche Verknüpfung bereits dann gegeben, wenn Strafverfolgung oder Bestrafung nach Art. 9 Abs. 2 Bst. e QRL an die Verweigerung anknüpfen? - 9 - 6. BVerwG Beschl. v. 15.08.2019, Az. 1 C 32.18 (Az. des EuGH noch nicht veröffentlicht): Das BVerwG hat den EuGH ersucht, Fragen zum Begriff des „Familienangehörigen“ im Sinne der EUAnerkennungsrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU) zu klären. Es geht um die Frage, unter welchen Voraussetzungen Eltern zu ihrem minderjährigen Kind nachziehen dürfen, wenn das Kind in Deutschland als sog. subsidiär Schutzberechtigter anerkannt ist, weil ihm im Herkunftsland Todesgefahr oder etwa eine unmenschliche Behandlung droht. Nach Ansicht des BVerwG ist unklar, auf welchen Zeitpunkt es für die Beurteilung der Minderjährigkeit ankommt. Ein afghanischer Vater war im Januar 2016 zusammen mit vier minderjährigen Kindern nach Deutschland eingereist. Sein ältester Sohn war bereits 2012 nach Deutschland gekommen, erhielt aber erst im Mai 2016 subsidiären Schutz. Am 20. April 2016 war er volljährig geworden. Der Vater hatte im Februar 2016 um internationalen Schutz ersucht, sein förmlicher Asylantrag datierte allerdings vom 21. April 2016, d. h. als der Sohn gerade volljährig geworden war. Im Dezember 2016 lehnte das BAMF den Antrag des Vaters ab. Das VG Stuttgart hatte zunächst entschieden, dem Vater gem. § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 AsylG als Elternteil eines minderjährigen ledigen Schutzberechtigten subsidiärer Schutz zuzuerkennen. Hierfür genüge, dass der Sohn im Zeitpunkt des Asylgesuches – also im Februar 2016 – des Klägers minderjährig gewesen sei (Urt. v. 23.05.2018, Az. A1K17/17). Der 1. Revisionssenat des BVerwG sieht jedoch unionsrechtlichen Klärungsbedarf, da die Regelung des AsylG auf den Begriff des Familienangehörigen im Sinne des Art. 2 Buchst. j der EU‐Anerkennungsrichtlinie abstelle. Nun soll der EuGH klarstellen, auf welchen Zeitpunkt es für die Frage, ob der Schutzberechtigte „minderjährig“ ist, ankommt: Etwa auf den Zeitpunkt, zu dem der Asylantragsteller eingereist ist, auf den Zeitpunkt, zu dem der Asylantrag gestellt wurde oder auf den Zeitpunkt der Entscheidung über den Asylantrag. Möglich sei jedoch auch, dass an den Zeitpunkt angeknüpft werden müsse, zu dem der schutzberechtigte Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat bzw. zu dem ihm der subsidiäre Schutz zuerkannt wurde. Außerdem soll der EuGH klären, welche weiteren Anforderungen für den Elternnachzug im Sinne der Richtlinie gelten: Wird vorausgesetzt, dass das Familienleben zwischen dem Schutzberechtigten und dem Asylantragsteller im Aufnahmeland wiederaufgenommen worden ist, oder genügt insoweit die "bloße zeitgleiche Anwesenheit des Schutzberechtigten und des Asylantragstellers im Aufnahmeland"? Ist ein Elternteil auch dann Familienangehöriger, wenn die Einreise nach den Umständen des Einzelfalles nicht darauf gerichtet war, im Sinne der Richtlinie die Verantwortlichkeit für eine minderjährige und Person tatsächlich wahrzunehmen? Unklar sei außerdem, wann die Eigenschaft als Familienangehöriger ende, so das BVerwG. III. Andere Gerichte und Entscheidungskomitees 1. 16 August 2019 ‐ United Nations Committee against Torture (UN ‐ CAT) Die Rückführung eines Antragstellers mit kurdischer Volkszugehörigkeit in die Türkei durch Serbien verletzte die UN‐Konvention gegen Folter. Der Antragsteller war ein kurdischer politischer Aktivist in der Türkei. 2001 wurde er inhaftiert unter dem Vorwurf, einer oppositionellen Gruppe zuzugehören. In der Haft wurde er gefoltert und gezwungen, ein Geständnis zu unterschreiben. 2006 verurteilte der EGMR die Türkei wegen Verletzung von Art. 5 EMRK im Hinblick auf die Umstände der Haft. 2012 wurde der Ast. In der Türkei zu 15 Jahren Haft verurteilt - 10 - wegen seiner vermuteten Zugehörigkeit zu einer bewaffneten Organisation, der revolutionärem Partei Kurdistans. Während des Berufungsverfahrens floh er aus der Türkei und geriet an der Grenze zwischen Serbien und Bosnien in Abschiebehaft. Er beantragte Asyl in Serbien, blieb aber in Haft. Das UN‐Komittee vertrat die Auffassung, im Hinblick auf die Abschiebungsverfügung hätten die serbischen Behörden die generelle Menschenrechtssituation in der Türkei beachten müssen und das individuelle Risiko des Ast. Im Falle seiner Rückkehr nach dort. Man habe weder seine frühere Verurteilung in der Türkei beachtet, noch das erzwungene Geständnis. Serbien habe deswegen Art. 3 der Antifolterkonvention verletzt. 2. 4/2016 (D.D. ./. Spanien) 01.02.2019 – UN‐Komitee für die Kinderrechtskonvention zu den Rechten unbegleiteter Minderjähriger bei Abschiebungen aus Melilla – https://www.refworld.org/ cases,CRC,5c73f8b64.html ‐ accessed 12 September 2019 Das UN‐Komitee hat im Fall des seinerzeit minderjährigen unbegleiteten Flüchtlings aus Mali, der ohne jedes Verfahren nach Marokko deportiert worden war, Verletzungen von Art. 3 (Kindeswohl), Art. 20 (Rechte der von der Familie getrennt lebenden Kinder) und Art. 37 (Verbot von Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) festgestellt und verlangt, dass der Bf. entschädigt und die spanische Praxis und Rechtslage so verändert wird, dass sich solche Rechtsverletzungen nicht wiederholen. Sachverhalt: Nach seiner Flucht aus Mali hatte der Beschwerdeführer, ein unbegleiteter damals noch Minderjähriger, den Grenzzaun zwischen Marokko und Media überwunden. Er wurde von spanischen Grenzschutzbeamten noch am Zaun festgenommen und unmittelbar nach Marokko zurückgebracht. Er war nicht als Minderjähriger identifiziert worden, hatte keine Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen oder rechtliche Beratung zu erhalten. Es gelang ihm später, ein zweites Mal Spanien zu erreichen und dort rechtliche Beratung zu finden. Zur Zulässigkeitsfrage erklärte das Komitee, dass der Minderjährige unter der tatsächlichen Kontrolle des spanischen Staates stand, nachdem er den Grenzzaun überwunden hatte. Da es keine formale Abschiebungsverfügung gegeben habe, gegen die der Antragsteller hätte vorgehen können, war es für ihn unmöglich, zunächst nationale spanische Gerichte mit seinem Verfahren zu befassen. Das Komitee erklärte, jeder Staat sei verpflichtet, alle notwendigen Schritte zu unternehmen, um unbegleitete Minderjährige so schnell wie möglich an der Grenze zu identifizieren. Es betonte nachdrücklich, dass die Kinderrechtskonvention Staaten verpflichtet, vor jedem Versuch einer Rückführung zunächst festzustellen, welches Alter das Kind oder der Jugendliche hat, sowie, ob besondere Vulnerabilität besteht. Im vorliegenden Sachverhalt hätten die Behörden es versäumt, eine ordnungsgemäße Identifizierung des Minderjährigen durchzuführen und ihm keine Möglichkeit eröffnet, gegen seine Abschiebung rechtlich etwas zu unternehmen. Damit seien die Rechte aus Art. 3 und 20 der Kinderrechtskonvention verletzt worden. Unter Beachtung der Gewalt, die gegen Migranten im Grenzbereich mit Marokko seitens der spanischen Polizei ausgeübt wurde und die fehlerhafte Behandlung des Verfahrens durch die Behörden und die Risiken, denen der Minderjährige auf diese Weise ausgesetzt worden sei, sei auch eine Verletzung der Art. 3 und 37 der Konvention im Lichte des Prinzips des „nonrefoulement“ erfolgt. Insbesondere die Umstände der Abschiebung, zu denen gehörte, dass er kurze Zeit inhaftiert worden war und in Handschellen transportiert wurde ohne jegliche rechtliche Beratung oder auch nur eine sprachliche Übersetzung des Verfahrens und der Umstände, bedeute eine Art und Weise der Behandlung, die Art. 37 der Kinderrechtskonvention verletze. Das Komitee forderte Spanien auf, um derartige Verletzungen der Kinderrechtskonvention zukünftig zu verhindern, nationales Recht zu schaffen, dass derartige Massenabschiebungen, wie im vorliegenden Fall, aus Ceuta und Melilla zukünftig verbietet und verpflichtete Spanien zu einer Schmerzensgeldzahlung an den Minderjährigen. - 11 - 3. VG München, Beschluss v. 17.07.2019 – M 11 S 19.50722, M 11 S 19.50759 Aus den Gründen des – sehr umfangreichen – Beschlusses: „52 bb) Gegen die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen aber nach summarischer Prüfung weitere erhebliche Bedenken, die letztlich dem Antrag zum Erfolg verhelfen. 53 Insbesondere ist offen, ob die Antragsgegnerin nicht nach Art. 3 Abs. 2 UA 2 und 3 Dublin III‐VO zur Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. 54 Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen gibt es erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass Griechenland den Antragsteller in die Türkei abschieben wird. Der Antragsteller hat die Entscheidung der griechischen Asylbehörde vom 12. November 2018 in Übersetzung vorgelegt, mit der der dortige Asylantrag des Antragstellers als unzulässig abgewiesen wurde, weil für ihn die Türkei als sicheres Land bezeichnet werden könne. Eine solche Verfahrensweise ist zwar grundsätzlich europarechtskonform, weil die Richtlinie 2013/32/EU (im Folgenden: Verfahrensrichtlinie), die neben der Dublin‐III‐VO anwendbar ist (vgl. Erwägungsgrund 12 der Dublin‐III‐VO), das Konzept des sicheren Drittstaats ausdrücklich kennt (Art. 38 Verfahrensrichtlinie). Die Verfahrensrichtlinie macht für die Anwendung dieses Konzepts jedoch bestimmte Vorgaben, bezüglich derer mindestens erheblich zweifelhaft ist, ob Griechenland sie einhält. So sieht Art. 38 Abs. 1 Verfahrensrichtlinie unter anderem vor, dass sich die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats davon überzeugt haben, dass eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, in dem betreffenden Drittstaat unter Wahrung des Grundsatzes der Nicht‐ Zurückweisung nach der Genfer Flüchtlingskonvention behandelt wird (Art. 38 Abs. 1 c Verfahrensrichtlinie) und dort außerdem die Möglichkeit hat, einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu stellen und im Falle der Anerkennung als Flüchtling Schutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention zu erhalten (Art. 38 Abs. 1 e Verfahrensrichtlinie). 55 Im vorliegenden Fall bestehen erhebliche Zweifel, ob sich Griechenland an diese Vorgaben hält. Nach den Ausführungen im aktuellen Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl‐ und abschieberelevante Lage in der Türkei vom 14. Juni 2019 dürfte zwar in der Türkei der Grundsatz der Nicht‐Zurückweisung nach der Genfer Flüchtlingskonvention eingehalten sein, so dass das Gericht die vom Antragsteller befürchtete Gefahr der Kettenabschiebung nach Syrien als nicht gegeben ansieht. Andererseits lassen die Ausführungen im Lagebericht keinen Zweifel daran, dass die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention nur auf europäische Asylsuchende anwendet, während für Nichteuropäer lediglich der Grundsatz des non‐refoulement gilt. Flüchtlinge aus anderen Staaten erhalten lediglich einen zeitlich befristeten Status für die Dauer des Asylverfahrens. Syrische Staatsangehörige erhalten eine Art „temporären“ Schutz, allerdings keinen echten, der Genfer Flüchtlingskonvention entsprechenden Status (Lagebericht, S. 24). Nach Ansicht des Gerichts spricht viel dafür, dass dies den Voraussetzungen des Art. 38 Abs. 1 e Verfahrensrichtlinie nicht genügt. 56 Das Gericht ist weiter der vorläufigen Ansicht, dass es grundsätzlich zwar Sache des jeweiligen Asylbewerbers ist, im jeweiligen Asylverfahren des zuständigen Mitgliedstaates die entsprechenden Schritte zu unternehmen und notfalls gerichtlich durchzusetzen, um im Mitgliedstaat eine der Verfahrensrichtlinie entsprechende Behandlung zu erhalten. Im vorliegenden Fall gibt es jedoch Anhaltspunkte dafür, dass in Griechenland Asylanträge syrische Staatsangehöriger, die nach den innerstaatlichen Regeln Griechenlands eine Verbindung zu dem betreffenden Drittstaat haben (vgl. Art. 38 Abs. 2 a Verfahrensrichtlinie), systematisch nicht in einer mit den Vorgaben von Art. 38 Abs. 1 e Verfahrensrichtlinie zu vereinbarenden Weise behandelt werden. Nach der im aktuellen Länderbericht über Griechenland von aida (Asylum - 12 - Information Database) vom 29. März 2019 auf Seite 104 enthaltenen Übersicht sind im Jahr 2018 von insgesamt 509 Asylanträgen syrischer Staatsangehöriger, die nach dem Konzept des sicheren Drittstaats behandelt worden sind, mehr als ¾ (77,3 %) in der Erstentscheidung als unzulässig abgelehnt worden. Der Antragsteller ist von dieser Praxis konkret betroffen, weil er syrischer Staatsangehöriger ist und die griechische Asylbehörde in ihrer Erstentscheidung vom 12. November 2018 das Konzept des sicheren Drittstaats auf ihn auch angewandt und den Antrag als unzulässig abgelehnt hat. 4. VG München – Beschluss vom 08.08.2019 – M 18 E 19.32238: Vorläufige Rückholung aus Griechenland nach Einreiseverweigerung und Rückführung aufgrund des "Seehofer‐Abkommens": Leitsätze 1. Die Einreiseverweigerung gegenüber einer asylsuchenden Person bei einer Kontrolle durch eine Grenzbehörde in einem inländischen, grenznahen Bahnhof und ihre Rückführung nach Griechenland innerhalb von 48 Stunden aufgrund des "Seehofer‐Abkommens" ist voraussichtlich unionsrechtswidrig. 2. Befindet sich eine Person auf dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats der Dublin‐Verordnung und äußert dort ein Asylgesuch, ist zunächst ausschließlich die Dublin‐III‐VO als Spezialgesetz anwendbar. Wegen Art. 1 und 20 Abs. 2 S. 2 Dublin III‐VO und dem "effet utile"‐Grundsatz, wonach EU‐Recht wirksam umzusetzen ist, besteht dann zunächst die Pflicht der Grenzbehörde zur Weiterleitung des Asylgesuchs an die zuständige Asylbehörde, um die Anwendung der Dublin‐III‐VO zu gewährleisten. 3. Es ist zweifelhaft, dass eine „Nichteinreisefiktion“ angenommen und damit die Anwendung der Dublin III‐VO umgangen werden kann: a. Falls die Maßnahme nach § 18 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 2 AsylG eine Rückkehrentscheidung mit anschließender Abschiebung nach Art. 6 und 8 Rückführungs‐RL 2008/115/EG darstellen sollte, wäre sie europarechtswidrig, da die Rückführungs‐RL nur auf Personen anwendbar ist, die sich bereits im Hoheitsgebiet des handelnden Mitgliedstaates aufhalten, was aber hier unter Verweis auf die Nichteinreisefiktion verneint wird. Ohnehin wären aber die Verfahrensanforderungen der Art. 6 ff. Rückführungs‐RL verletzt. b. Falls die Maßnahme gem. § 18 AsylG eine Einreiseverweigerung und deren Durchsetzung nach dem Schengener Grenzkodex darstellen sollte, hätte ‐ unterstellt, die Grenzübertrittskontrollen an der Binnengrenze wären berechtigt ‐ eine Rückführung nur nach Österreich erfolgen können. c. Es bestehen auch Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines "Pre‐Dublin‐Verfahrens". Denn in der vorliegenden Konstellation werden Betroffene nach der Rückführung nicht als Dublin‐ Rückkehrende behandelt, sondern als auf sonstige Weise Zurückgeführte. Dies birgt die Gefahr, dass der ursprüngliche Asylantrag nur als Folgeantrag gewertet wird und Betroffene ohne Prüfung der materiellen Asylgründe ins Herkunftsland zurückgeführt werden. Dies widerspricht dem Grundsatz der Nichtzurückweisung und somit auch der Zielsetzung der Dublin III‐VO. d. Selbst wenn die Maßnahmen ausschließlich auf § 18 Abs. 2 Nr. 2 AsylG gestützt werden könnten, handelte hier die sachlich unzuständige Behörde. Denn für das Einleiten eines Auf‐ und Wiederaufnahmeverfahrens ist das BAMF zuständig und hätte zumindest beteiligt werden müssen. Dies ist auch sinnvoll, da die Zuständigkeitsregelungen der Dublin III‐VO eine komplexe Materie darstellt, die von ungeschulten Personen in einem auf höchste Geschwindigkeit ausgelegten Einreiseverweigerungs‐ und Zurückschiebungsverfahren nicht ausreichend geprüft - 13 - werden können. Diese Zuständigkeitsregelungen können auch nicht durch das Verwaltungsabkommen zwischen Griechenland und Deutschland vom 17./18. August 2018 abgeändert werden. 4. Die fehlende Prüfung einer möglichen Zuständigkeit Deutschlands nach der Dublin‐III‐VO nach § 18 Abs. 4 AsylG stellt einen materiellen Fehler dar, der nicht geheilt werden kann. Außerdem hätte auch ein Abschiebungsverbot nach Griechenland nach analoger Anwendung der § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG geprüft werden müssen. 5. Es ist nicht auszuschließen, dass das griechische Asylsystem systemische Mängel aufweist. (Anmerkung: Am 4. November veröffentlichte die SZ einen Artikel (S.1), wonach es von August 2018 bis einschließlich Oktober 2019 auf der Grundlage des Abkommens zwischen Deutschland und Griechenland zu insgesamt 34 Zurückweisungen an der deutsch‐österreichischen Grenze gekommen sei und die Betroffenen nach Griechenland zurückgeschoben wurden. Aufgrund des entsprechenden Abkommens mit Spanien kam es zu zwei Zurückweisungen nach dort während des gesamten Zeitraums. Die oben zitierte Entscheidung macht die Zweifel an der europarechtlichen Zulässigkeit der Verfahrensweise deutlich.) 5. 12. Juli 2019 – E 3078/2019 – schweizerisches Bundesverwaltungsgericht: aufschiebende Wirkung in einem Verfahren auf Rückführung gemäß Dublin III nach Kroatien im Hinblick auf die derzeitige Situation (Massenabschiebung) an der Grenze zwischen Kroatien und Bosnien. Sachverhalt: ein syrischer Staatsangehöriger kam im März 2019 in die Schweiz. Die Eurodac Überprüfung ergab, dass er bereits in Kroatien als Asylsuchender registriert war. Die die Schweiz beantragte deswegen in Kroatien die Rückübernahme (Art. 13 Dublin III). Der Betroffene legte Rechtsmittel gegen die Entscheidung mit der Begründung, Kroatien sei kein sicherer Start für ihn. Dazu erklärte er, dass er insgesamt 18 Mal bereits an der kroatischen Grenze zurückgewiesen worden und auch inhaftiert gewesen sei, wo er von kroatischen Grenzpolizisten missbraucht wurde. Er erklärte, dass die er immer noch psychisch und physisch unter diesen Erfahrungen leide. Das Gericht legte seiner Entscheidung die wachsende Zahl von Berichten zugrunde, die bestätigten, dass es in Kroatien zu Ablehnungen der Zulassung zu Asylverfahren in größerem Umfange gekommen sei. Dies gelte insbesondere für die Zustände an der kroatisch‐bosnischen Grenze. Das Gericht vertrat die Auffassung, dass die schweizerische Migrationsbehörde (SEM) die die Argumentation des Klägers nicht hinreichend gewürdigt habe sowohl im Hinblick auf die systemischen Defizite im kroatischen Asylsystem, als auch im Hinblick auf die konkreten Erfahrungen des Klägers in Kroatien und seine derzeitige gesundheitliche Situation. Die Vorinstanzen hätten auch nicht das Risiko einer Kettenabschiebung von Kroatien über Bosnien in den Herkunftsstaat berücksichtigt. Dies könne eine Verletzung des Artikels drei EMRK beinhalten. Das Gericht verpflichtete deswegen die schweizerische Asylbehörde das Verfahren wieder zu eröffnen und ordnete an, dass die Dublin‐Überstellung aufgeschoben werden müsse. 6. 20.08.2019 – Distriktgericht Den Haag: aufschiebende Wirkung gegen einen Dublin Transfer für ein unbegleitetes minderjähriges Kind und seinen Bruder bis zu einer Feststellung, ob das Kindeswohl bei einer Rückführung gewahrt werde. Sachverhalt: Antragsteller sind ein minderjähriger und sein erwachsener Bruder, beide irakische Staatsangehörige. Sie reisten 2018 nach Rumänien ein und wurden dort für drei Tage inhaftiert. Dort - 14 - wurden sie körperlich missbraucht und von allen notwendigen Dingen wie beispielsweise Lebensmittel und Wasser oder Zugang zu einer Dusche ausgeschlossen. Nach ihrer Haftentlassung reisten sie weiter in die Niederlande und beantragten Asyl. Die Niederlande richteten ein Rückübernahme Ersuchen an Rumänien. Dabei vertrat die niederländische Asylbehörde die Auffassung, der Minderjährige könne seinem erwachsenen Bruder folgen gemäß Art. 8 Abs. 1 Dublin III, weil der Bruder sich rechtmäßig in Rumänien aufhalte. Das Argument des Minderjährigen im Verfahren lautete, der Bruder halte sich eben nicht legal in Rumänien, sondern tatsächlich in den Niederlanden auf und es entspreche dem Kindeswohl, dort zu bleiben. Das Gericht vertrat die Auffassung, Art. 8 Abs. 1 Dublin III sei nicht einschlägig im Hinblick auf den erwachsenen Bruder, weder in Rumänien noch in den Niederlanden, weil die Definition des Familienmitglieds, das sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten müsse, nicht gelte im Hinblick auf Schutzsuchende und Flüchtlinge, sondern nur auf Personen anzuwenden sei, deren Aufenthalt auf der Grundlage einer Aufenthaltserlaubnis oder eines Visums rechtmäßig sei. Im vorliegenden Sachverhalt sei aber Art. 8 Abs. 4 Dublin III anzuwenden, der im Hinblick auf das Kindeswohl der Minderjährigen schütze. Diesen Aspekt habe die Verwaltungsentscheidung nicht berücksichtigt. Das Gericht verwarf daher die Rückkehrentscheidung und verpflichtete das Justizministerium, eine neue Entscheidung zu treffen und dabei den Aspekt des Kindeswohls, sowie einen Art. 6 Abs. 3 und 8 Abs. 4 Dublin III ausgedrückt werde, zu berücksichtigen. Es betonte, dass, wenn die niederländische Behörde ihre Zuständigkeit für den Asylantrag des Kindes annehme, dies auch gelten müsse für den erwachsenen Bruder, da eine Trennung der beiden Familienangehörigen nicht zulässig sei. 7. 15. Juli 2019 – niederländischer Staatsrat: Aufschub einer Rückübernahmeentscheidung aus den Niederlanden nach Griechenland für eine alleinerziehende Mutter und ihre Tochter, die asylrechtlichen Schutz in Griechenland erhalten hatten, aber als vulnerable Personen eingestuft worden waren. Der Staatsrat legte seiner Entscheidung das Urteil des EuGH in Sachen Ibrahim zugrunde (C‐297/17), wonach eine Rückübernahme für eine Person, die bereits in einem anderen Staat ein Schutzstatus hat nach den Regeln von Dublin III dann nicht erfolgen kann, wenn das Risiko einer Verletzung von Art. 4 EUGrundrechtecharta und Art. 3 EMRK bestehe. Insbesondere sei hier die Situation besonders vulnerabler Personen zu berücksichtigen. Bezüglich Griechenlands bezog der Staatsrat sich auf seine eigene Rechtsprechung aus dem Jahre 2018, wonach Personen, die nach Griechenland zurückgeschickt wurden, erhebliche Schwierigkeiten hätten, bezahlte Arbeit zu finden, Zugang zum Gesundheitssystem zu bekommen und keine Unterstützung des Staates bei der Suche nach Wohnraum erhielten. Im hier zu entscheidenden Sachverhalt müssten zudem gravierende psychische Gesundheitsprobleme der Tochter berücksichtigt werden und der Umstand, dass sie auf permanente Hilfe und Unterstützung ihrer Mutter angewiesen sei, sodass diese nicht die Möglichkeit habe, in Griechenland eine bezahlte Arbeit auszuüben und Schwierigkeiten haben würde, medizinische und psychologische Hilfe seitens des Staates zu erhalten. Die niederländische Asylbehörde sei deswegen verpflichtet, im Hinblick auf die Vulnerabilität der Beschwerdeführer den Fall neu zu überprüfen und insbesondere zu klären, ob im Falle einer Rücküberstellung nach Griechenland dort das Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der Betroffenen bestehe. - 15 - B. Politische Entwicklungen I. Erstinstanzliche Behörden – Asyl – Entscheidungen in Europa – Jan. – Juni 2019 Von Januar bis September 2019 wurden in der EU über 500.000 Anträge gestellt (geringe Zunahme gegenüber fast 497.000 Anträgen 2018), über 72 % davon in Deutschland, Frankreich, Spanien, Griechenland und dem UK. 2018 waren Syrien, Afghanistan und Irak die Hauptherkunftsländer, 2019 bislang Afghanistan, Syrien und Venezuela. Von Januar bis Juni 2019 wurden EU‐weit 96.800 positive Bescheide ausgestellt. Eine erhebliche Zahl der Anträge ist das Ergebnis von Sekundärbewegungen, die dazu führen, dass Personen, die bereits in einem Mitgliedstaat registriert sind, einen Antrag in einem weiteren Mitgliedstaat stellen. Obwohl sich die Bewertung der Sekundärbewegungen derzeit hauptsächlich auf Daten stützt, die ausschließlich Anträge und nicht Personen berücksichtigen, und eine Person in mehreren Mitgliedstaaten Anträge gestellt haben könnte, wurden in den ersten neun Monaten des Jahres 2019 mehr als 280.000 „Auslandstreffer“ in der Eurodac‐Datenbank ermittelt. Zwar entfallen auf Ersteinreiseländer wie Italien und Griechenland die meisten der vorhandenen Einträge, doch sind Frankreich und Deutschland mit den meisten ermittelten Auslandstreffern nach wie vor die Hauptzielländer von Sekundärbewegungen. Negative Entscheidungen: Deutschland/das BAMF erließ in dieser Zeit insgesamt mehr als 76.000 negative Entscheidungen, Frankreich 43.398, Italien 36.537. Die meisten offiziell ausgewiesenen Unzulässigkeitsentscheidungen wurden von der Schweiz getroffen (1.829), es folgen Belgien (1.793), Österreich (1.383) und Schweden (1.356). Vermutlich wurde eigentlich die höchste Zahl von Unzulässigkeitsentscheidungen in Deutschland getroffen. Die Statistik des BAMF weist dies jedoch – ebenso wie die von EuroStat – nicht ausdrücklich aus, weil nicht unterschieden wird zwischen Rücknahme, formalen Entscheidungen (39.099) und Entscheidungen aus anderen Gründen, sondern nur die Zahl der Ablehnungen genannt wird. Malta, Polen und Slowenien erließen mehr Unzulässigkeitsentscheidungen als negative Entscheidung zur Begründetheit der Anträge. In Kontrast dazu trafen Frankreich und Griechenland nur wenige Unzulässigkeitsentscheidungen, Zypern keine. Auch bei den positiven Entscheidungen, d. h. der Gewährung eines Schutzstatus, betraf die größte Zahl Deutschland (42.080). Frankreich fertigte 17.447 positive Entscheidungen aus, Griechenland 11.223 und Italien 9.200. Festzustellen ist, dass die Hauptformen des Schutzes von Land zu Land variieren. Malta, Zypern, Portugal und Rumänien gewährten überwiegend nur subsidiären Schutz, Griechenland, Österreich, Großbritannien und Slowenien dagegen haben in den meisten positiv entschiedenen Fällen den Flüchtlingsstatus gewährt. II. Programm der finnischen Ratspräsidentschaft, Parlamentswahlen, neue EU‐Kommission Nachhaltigkeit, Wettbewerbsfähigkeit, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit sind die Kernanliegen der finnischen Ratspräsidentschaft, die am 1. Juli 2019 ihre Arbeit aufnehmen wird. Das Programm der Finnen wurde am 26. Juni 2019 veröffentlicht. Finnland versteht die EU als Wertegemeinschaft, deren Erfolg auf dem Respekt für demokratische Institutionen, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit aufbaue. Um die Union mit mehr Maßnahmen zur Förderung der gemeinsamen Werte auszustatten, werde sich die finnische Ratspräsidentschaft für die Einführung effektiver Mechanismen zur Verknüpfung von EU - 16 - Geldern und Rechtsstaatlichkeit einsetzen. Mit Blick auf ein wettbewerbsfähiges und inklusives Europa hebt das Programm die Bedeutung des Dienstleistungssektors hervor: Die EU soll Marktführer in der Digitalwirtschaft werden. Dafür setzt Finnland die Entwicklung digitaler Dienstleistungen und neuer Technologien voraus. Neben der Unterstützung von digitalen Dienstleistungsangeboten soll unter finnischem Vorsitz das grenzüberschreitende Angebot von Dienstleistungen gefördert werden. Kooperationen zwischen Strafverfolgungs‐ und Justizbehörden würden das Maß an Sicherheit innerhalb der EU verbessern. Die designierte Kommissionspräsidentin von der Leyen hat am 10. September 2019 „ihr“ Kommissionsteam vorgestellt (inzwischen wurden drei KandidatInnen vom EP nicht akzeptiert und es müssen neue gefunden werden). Die Bereiche „Justiz“ und „Rechtsstaatlichkeit“ sollen unter der Verantwortung des Kommissars Reynders (Belgien) zusammengeführt werden. Laut Aufgabenbeschreibung verantwortet er künftig u. a. die Erarbeitung eines umfassenden Rechtsstaatlichkeitsmechanismus ebenso wie die Arbeiten an einem Rechtsakt zum ethischen Umgang mit künstlicher Intelligenz und die Effizienzsteigerung der Justiz durch den Einsatz digitaler Technologien. Als Vizepräsidentin soll die scheidende Justizkommissarin Věra Jourová (Tschechien) den Bereich Rechtsstaatlichkeit koordinieren und dabei u. a. sowohl den Beitritt der EU zur EMRK begleiten wie auch die Einführung transnationaler Listen bei Europawahlen Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments trafen am 2. Juli 2019 in Straßburg zusammen, um sich in der ersten Sitzung der neunten Legislaturperiode zu konstituierten. Die 705 Mitglieder des Parlaments, die sich in 7 Fraktionen organisiert haben, wählten am Mittwoch, den 3. Juli, im zweiten Wahlgang den sozialdemokratischen Italiener David‐Maria Sassoli zum Parlamentspräsidenten für die kommenden zweieinhalb Jahre. Mit Rainer Wieland, Katarina Barley und Nicola Beer stammen drei der 14 Vizepräsidenten des EU‐Parlaments aus Deutschland. III. Aktivitäten der bisherigen EU‐Kommission – insbes.: Fortschrittsbericht 16.10.2019 Üblicherweise enthält dieser Bericht halbjährliche Mitteilungen zum Stand der „Reformen“ der europäischen Richtlinien und Verordnungen im Bereich des Flüchtlingsrechts. Das bleibt dieses Mal kurz: Es gibt nichts Neues. Die bisherige Kommission hat seit Anfang 2019 keine neuen oder geänderten Vorschläge mehr unterbreitet. Die neue Kommission wird voraussichtlich erst ab 1. Dezember im Amt sein. Zwar hat die zukünftige Präsidentin bereits angekündigt, dass sie in der Migrationspolitik einen neuen Ansatz verfolgen werde (wie sie es in Berlin auch oft getan hat: etwas ankündigen mit großem Presseecho – später erfährt man dann eher im Kleingedruckten, dass aus den meisten Ankündigungen nichts geworden ist). Da aber bisher noch nicht einmal klar ist, wer der/die zuständige/r Kommissar/in sein wird und wie die Ressorts genau die aufgeteilt werden, wird in allernächster Zeit nichts Neues zu erwarten sein. Die bisherige Kommission hat am 16. Oktober den letzten Bericht ihrer Amtszeit zur europäischen Migrationsagenda veröffentlicht (https://ec.europa.eu › rep › COM‐2019‐481‐F1‐DE‐MAIN‐PART‐1), der im folgenden Text auszugsweise zitiert wird. - 17 - 1. Fortschritte Als wichtigste Fortschritte werden genannt • Die Zahl irreguläre Grenzübertritte in die EU ging 2018 auf 150.000 zurück – niedrigste Zahl der letzten fünf Jahre. Maßgeblich dafür sind innovative Konzepte für Partnerschaften mit Drittländern, wie die Erklärung EU‐Türkei vom März 2016. • Seit 2015 seien fast 760.000 Migranten auf See und mehr als 23.000 in der nigrischen Wüste gerettet worden. • Die EU habe konkrete und rasche Unterstützung für die am stärksten belasteten Mitgliedstaaten geleistet. ‐ Zur operativen Unterstützung wurden Hotspots eingerichtet, um an den am stärksten betroffenen Orten rasch und effizient Hilfe zu leisten. Mittlerweile gibt es fünf dieser Hotspots in Griechenland und vier in Italien. ‐ Seit Beginn der „Krise“ wurden die EU‐intern bereitgestellten Mittel für Migration und Grenzen auf über 10 Mrd. € verdoppelt. ‐ 34.700 Personen wurden im Rahmen spezieller Regelungen von Italien und Griechenland aus innerhalb der EU umgesiedelt. Zudem wurden seit Sommer 2018 weitere 1.103 Personen im Rahmen von Umverteilungen auf freiwilliger Basis umgesiedelt – eine von der Kommission seit Januar 2019 koordinierte Maßnahme. • Die Europäische Agentur für die Grenz‐ und Küstenwache habe die Mitgliedstaaten beim Schutz der EU‐Außengrenzen unterstützt, wobei ihre Kapazitäten nun in einer zweiten Phase der Reform mit einer ständigen Reserve von 10.000 operativen Mitarbeitern ausgebaut werde. • Die EU habe die Neuansiedlungsanstrengungen für Menschen, die internationalen Schutz benötigen, einen sicheren und legalen Weg in die EU bieten, verstärkt. Seit 2015 seien beinahe 63.000 Menschen neu angesiedelt worden. • Die EU habe für Millionen von Flüchtlingen in Drittländern Schutz und Unterstützung bereitgestellt: Im Rahmen der Fazilität für Flüchtlinge in der Türkei werden vor Ort 90 Projekte durchgeführt, die täglich beinahe 1,7 Millionen Flüchtlinge unterstützen und den Bau neuer Schulen und Krankenhäuser fördern. ‐ Der Regionale Treuhandfonds der EU als Reaktion auf die Syrien‐Krise fördert im Rahmen von über 75 Projekten die Gesundheitsversorgung, Bildung, Existenzsicherung und sozioökonomische Unterstützung von syrischen Flüchtlingen, Binnenvertriebenen und Aufnahmegemeinschaften in der gesamten Region. ‐ Die Maßnahmen, die als Reaktion auf die katastrophalen Bedingungen in Libyen ergriffen wurden, umfassen die Evakuierung von mehr als 4.000 Personen sowie die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr von mehr als 49.000 Personen seit 2017. Die Task Force Afrikanische Union ‐ Europäische Union ‐ Vereinte Nationen stelle in diesem Zusammenhang ein innovatives Partnerschaftsmodell dar. ‐ 210 Projekte in 26 Ländern, die im Rahmen des EU‐Treuhandfonds für Afrika gefördert werden, haben konkrete Ergebnisse, u. a. durch die Bereitstellung grundlegender Unterstützung für über 5 Millionen Schutzbedürftige, erbracht. - 18 - • Anstrengungen zur Zerschlagung von Schleusernetzen auf allen Routen, einschließlich Maßnahmen in Niger, haben zu einem erheblichen Rückgang der Zahl der Migranten, die aus dem Süden nach Libyen gelangen, geführt. • mit 23 Herkunfts‐ und Transitländern wurden förmliche Rückübernahmeabkommen oder praktische Vereinbarungen über Rückführung und Rückübernahme geschlossen, für die von der EU als Anreiz für wirksame Rückführungsmaßnahmen zusätzliche Unterstützung bereitgestellt wird. Da der „Fortschrittsbericht“ die Lage auf den „Hauptfluchtrouten“ ausführlich auch hinsichtlich der jeweiligen Unterstützungsleistungen der EU für die betroffenen Staaten darstellt, wird er – unter Einbeziehung verschiedener anderer Quellen – im nachfolgenden Text in einigen Passagen zitiert. 2. Östliche Mittelmeerroute/insbesondere: Situation in Griechenland Insgesamt sollen seit Jahresbeginn 2019 bereits 57.182 Migranten in Griechenland auf dem See‐ oder dem Landweg angekommen sein (37 % mehr als 2018). 28.952 von ihnen wurden auf das Festland gebracht. Z.Zt. befinden sich 35.630 Personen in den Lagern auf den ägäischen Inseln (Welt am Sonntag‐10.11.19‐ S.1). Die Zahl der Personen, die auf dem Landweg kommen, ist 2019 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 27 % zurückgegangen. Auf den Ägäischen Inseln machten Afghanen 2019 mit fast 41 % die größte Gruppe der Neuankömmlinge aus, über die Landgrenze kamen vor allem türkische Staatsangehörige (ca. 75 %). Die schwierigen Bedingungen, die durch die zunehmende Zahl der Neuankömmlinge und den zu erwartenden Wintereinbruch verursacht werden, führen zu dringendem Handlungsbedarf. Die Zahl der Rückführungen in die Türkei sank auf den niedrigsten Stand seit 2016. Seit April 2016 wurden insgesamt 1944 Personen in die Türkei zurückgebracht, 138 davon 2019. Die griechische Regierung hat zugesagt, Tele ihres Asylrechts zu überprüfen, um Antragsbearbeitung und Rückführungen zu beschleunigen. Zur Verbesserung der Aufnahmebedingungen auf den Inseln hat die EU seit 2015 Hilfe im Wert von über 2,2 Mrd. € bereitgestellt. Dies umfasst 8 Mio. €, die im September 2019 für zwei Projekte von IOM geleistet wurden, um den Schutz und die Aufnahmebedingungen für unbegleitete Minderjährige sowie die Sicherheit in den Festlandlagern zu verbessern. 2019 wurden im Rahmen des Programms Soforthilfe für Integration und Unterbringung (ESTIA), das von UNHCR durchgeführt wird, weitere Unterkünfte für mehr als 25.000 Asylsuchende und Flüchtlinge, sowie monatliche Geldleistungen für mehr als 72.000 Menschen bereitgestellt. Die EU hat auch die Arbeit von IOM sowie des Notfonds der UN für Kinder finanziert, um Aufnahmeeinrichtungen auf dem Festland vor Ort zu unterstützen. Die Arbeit von EASO und FRONTEX stützt sich auf die Bereitstellung von Sachverständigen aus den Mitgliedstaaten. Defizite bei der Zahl der Sachverständigen haben anhaltende Personalknappheit vor Ort zur Folge. Die EU‐Kommission unterstützt eine Reihe laufender Programme, die von den griechischen Behörden verwaltet werden und darauf abzielen, bestehende Lücken bei der Rechtshilfe, der medizinischen Versorgung und der Verdolmetschung auf den Inseln und auf dem Festland zu schließen. Die Fraktion der Linken führt in einem Antrag an den Bundestag (BT‐Drucksache 19/14024 ‐ 15.10.2019) zur Situation in Griechenland Folgendes aus: Das so genannte Hotspot‐Konzept der EU hat dazu geführt, dass immer mehr Schutzsuchende unter unerträglichen Bedingungen auf den griechischen Ägäis‐Inseln untergebracht werden und kaum noch Chancen auf ein faires Asylverfahren haben. Ende September 2019 lebten knapp 30.000 Geflüchtete in den Lagern auf Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos, obwohl deren Kapazitäten nur auf etwa 9.000 Personen ausgelegt sind. Viele warten Monate und Jahre auf ihren - 19 - Asylbescheid oder auf ihre Anhörung, Verlegungen aufs Festland finden nur unregelmäßig und in unzureichender Zahl statt. Anfang September 2019 wurden 1.416 Menschen von Moria auf Lesbos in Lager im Norden von Griechenland verlegt. Die Zustände dort sind teilweise noch schlechter als in Moria, auch weil die Infrastruktur und Versorgung noch katastrophaler sind. Ankommende Schutzsuchende werden in Moria in einem Großraumzelt untergebracht, das für ca. 80 Personen ausgelegt ist, in dem aufgrund der hohen Ankunftszahlen aber zeitweilig 500 – 600 Personen unterkommen müssen. Teilweise müssen die Menschen in Schichten schlafen, weil nicht genug Platz zur Verfügung steht, darunter auch zahlreiche unbegleitete minderjährige Schutzsuchende. Die medizinische Untersuchung und Versorgung ist völlig unzureichend, weil es kaum medizinisches Personal gibt, auf Lesbos arbeiten in dem Lager offiziell lediglich zwei Ärzte. Besondere Schutzbedürftigkeit, wie schwerwiegende Krankheiten oder Posttraumatische Belastungsstörungen, können so kaum festgestellt werden. Bei einem Brand im völlig überfüllten Lager Moria kam Ende September 2019 eine afghanische Mutter ums Leben, viele weitere Menschen wurden verletzt. Besonders desaströs ist die Lage von Kindern, insbesondere von ca. 2.000 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in den griechischen Hotspots. Auch Staatsminister Roth nannte die Situation „dramatisch“. Im Lager Moria auf Lesbos leben mehr als 10.000 statt der vorgesehenen 3.500 Menschen, davon sind ca. 42 % Kinder. Der griechische Regierungschef Mitsotakis forderte angesichts der Notlage andere EUStaaten dazu auf, zumindest Minderjährige aus den Insel‐Hotspots zu holen und aufzunehmen (https://www.proasyl.de/news/so‐nah‐und‐doch‐so‐fern‐zwischen‐deutschland‐und‐griechenlandwerden‐ familien‐bewusst‐zermuerbt/). Ein Bericht des Bundesfachverbandes unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) beschreibt massive Verstöße gegen die UN‐Kinderrechtskonvention in den Hotspots und spricht ebenfalls von „katastrophalen“ Bedingungen Auch Abgeordnete des Bundestages kritisierten nach Besuchen vor Ort die unerträglichen Zustände. Deutschland – so die Fraktion der Linken in ihrem Antrag – nutze die Handlungs‐ und humanitären Ermessensspielräume der Dublin‐Verordnung nicht, um wenigstens unbegleiteten Flüchtlingskindern und Familienangehörigen hier lebender Flüchtlinge die Einreise aus Griechenland und ein Asylverfahren in Deutschland unkompliziert zu ermöglichen. Stattdessen werden in einem sehr restriktiven Verfahren und teilweise unter Missachtung der subjektiven Rechte auf Familienzusammenführung nach der Dublin‐ Verordnung und der Kinderrechte Überstellungen nach Deutschland verhindert, kritisiert etwa „Pro Asyl“ auf der Grundlage dokumentierter Einzelfälle https://www.proasyl.de/en/material/legal‐note‐refugeefamilies‐ torn‐apart/). Die griechische Regierung kündigte am 2. September 2019 an, dass in Zusammenarbeit mit IOM über 1.400 Asylsuchende vom Aufnahmezentrum Moria/Lesbos zu einem auf dem Festland in Nord‐ Griechenland/Nea Kavala transferiert werden sollten. Dort lebten bereits 1.200 Personen. Da auch dort Platzmangel herrscht, wurden zusätzliche Zelte errichtet. Lokale Behörden haben allerdings bereits mitgeteilt, dass das Risiko von Wassermangel und Mangel an elektrischer Energie bestehe. Die Regierung kündigte an, dass die Unterbringung nur vorläufig sei, bis ein weiteres Aufnahmezentrum, das zurzeit errichtet werde, eröffnet werden könne. Seit 2014 beläuft sich die EU‐Finanzierung für Zypern auf fast 100 Mio. €, darunter 4 Mio. an Soforthilfe. Darüber hinaus werden Sachverständige der Mitgliedstaaten entsandt. Zypern hat in Zusammenarbeit mit der EU einen umfassenden Aktionsplan zur wirksamen Steuerung der Migration entwickelt, dessen Umsetzung mit finanzieller und operativer Unterstützung der Kommission und der EU‐Agenturen im Gange ist. - 20 - 3. Westbalkanroute Nachdem die Zahl der auf dieser Route aufgegriffenen irregulären Migranten 2018 gegenüber dem Vorjahr um die Hälfte zurückgegangen war, hat sich 2019 die Zahl wieder erhöht auf insgesamt ca. 25.000. Z.Zt. sollen sich ca. 12.000 Menschen in der Region aufhalten, davon ca. 7.000 in Bosnien (so die „Welt am Sonntag“ am 10.11.19 – S.1). Zwischen Januar und August wurden mehr als 6.600 irreguläre Einreisen in die EU verzeichnet, mehr als der Hälfte davon Afghanen. In den letzten Monaten kamen in Bosnien und Herzegowina, insbesondere im Kanton Una Sana an der Grenze zu Kroatien, wöchentlich bis zu 900 Personen an. Die EU hat seit 2015 mehr als 141 Mio. € zur Unterstützung des Westbalkans bei der direkten Bewältigung der Flüchtlings‐ und Migrationskrise bereitgestellt. 48 „Gast‐Grenzschutzbeamte“ der EU wurden nach Serbien entsandt, 146 nach Nordmazedonien. Die Verwaltungskapazitäten auf nationaler Ebene sind jedoch nach wie vor begrenzt. In Bosnien‐Herzegowina kamen Schätzungen zufolge seit Januar 2018 mehr als 45.000 Flüchtlinge an. Bisher konnten nur ca. 3.300 Menschen in offiziellen Zentren untergebracht werden. Seit 2018 arbeitet die EU‐Kommission mit humanitären Partnern und Behörden zusammen, um den Grundbedarf der Migranten zu decken und das Land beim Ausbau seiner Kapazitäten für das Migrationsmanagement zu unterstützen. Dafür wurden zusätzliche EU‐Mittel in Höhe von 34 Mio. € bereitgestellt. Damit werden Zentren für vorübergehende Aufnahme und Zugang zu Nahrungsmitteln, Grundversorgungsleistungen und Schutz für besonders Bedürftige unterstützt‚ was mehr als 3.500 Menschen zugutekommt. Vor Einbruch des Winters müssen die Behörden geeignete Unterbringungsmöglichkeiten ausfindig machen. 4. Zentrale Mittelmeerroute Insgesamt bewegt sich die Zahl der irregulären Einreisen über die zentrale Mittelmeerroute weiterhin auf einem niedrigen Niveau, wobei die Zahl der Neuankömmlinge in Malta erheblich zugenommen und bis zum 6. Oktober 2019 mit mehr als 2.800 Personen fast das Dreifache der 2018 im gleichen Zeitraum gemeldeten Zahl erreicht hat. Zusammen genommen lag die Zahl der Neuankömmlinge in Italien und Malta am 6. Oktober 2019 knapp unter 11.000, ein Rückgang von über 52 % gegenüber 2018. Die Zahl derer, die bis zum 6. Oktober 2019 in Italien angekommen waren (etwas weniger als 8.000), lag rund zwei Drittel niedriger als 2018 während des gleichen Zeitraums. Tunesien ist, gefolgt von Libyen, 2019 bislang das wichtigste Ausgangsland für Menschen, die nach Italien aufbrechen. Tunesier sind 2019 mit 28 % die größte Gruppe der Neuankömmlinge in Italien. Die Zahl der von der libyschen Küstenwache aufgegriffenen oder Geretteten belief sich 2019 auf ca. 7.100 gemeldete Fälle (2018 gesamt ca. 15.000). Seit 2014 wurde Italien von der EU mit fast 1 Mrd.€ für das Asyl‐, Migrations‐, Sicherheits‐ und Grenzmanagement unterstützt. Die EU hat dem italienischen Innenministerium und dem UNHCR im Juli 2019 Soforthilfe in Höhe von 0,7 Mio. € zur Verfügung gestellt, um die humanitäre Evakuierung von rund 450 Personen aus Libyen und Niger nach Italien zu unterstützen. Unterstützung an Italien wurde auch in Form von Fachwissen der EU‐Agenturen und Mitgliedstaaten geleistet (144 Experten von Frontex und 180 von EASO). Die finanzielle Unterstützung für Malta beläuft sich auf insgesamt mehr als 105 Mio. € seit 2014. Die wichtigste Unterstützung der EU für Malta bestand darin, die Umverteilung ausgeschiffter Migranten und Flüchtlinge zu erleichtern. Um Malta bei der Umverteilung von bis zu 500 Personen zu helfen, wurde der IOM Soforthilfe in Höhe von knapp 0,5 Mio.€ bereitgestellt. - 21 - Die maltesische Regierung soll ein geheimes Migrationsabkommen mit der libyschen „Einheitsregierung“ in Tripolis abgeschlossen haben (SZ – 11.11.19, S. 8): Maltas Marine soll der lybischen Küstenwache melden, wenn sich ein Schiff maltesischen Gewässern nähert. Die Libyer sollen es dann abfangen, nach Libyen zurückholen und die Menschen dort in „Auffanglager“ bringen. Libyen: Den Rahmen für Maßnahmen der EU zum Schutz von libyschen Binnenvertriebenen, Flüchtlingen und Migranten bildete die Arbeit der Taskforce der Afrikanischen Union, der EU und der UN, die dazu beitrug, die Evakuierung von Flüchtlingen und Migranten aus den Auffanglagern nahe der Front (angeblich ca.3.300 Menschen) zu beschleunigen und zu helfen, Zuflucht außerhalb Libyens zu finden. Als das Auffanglager Tajoura bei Luftangriffen getroffen wurde, starben mehr als 50 Menschen. Die 482 verbliebenen Flüchtlinge und Migranten suchten nach ihrer Freilassung Zuflucht im Sammel‐ und Transitzentrum des UNHCR in Tripolis. Wegen der gestiegenen Zahl der Neuankömmlinge ist das Zentrum überbelegt, sodass es nicht möglich war, dort eine nennenswerte Zahl Schutzbedürftiger aus den Auffanglagern aufzunehmen. Kooperationsprogramme der EU mit Libyen (insgesamt 467 Mio. €) werden trotz prekärer Sicherheitslage fortgesetzt. Im Juli wurden neue Programme des EU‐Treuhandfonds für Afrika beschlossen. Die EUUnterstützung für Schutzbedürftige‚ die von dem Konflikt betroffen sind, wurde beschleunigt. Hierzu zählen unter anderem direkte Soforthilfe und Schutz, z. B. medizinische Hilfe oder psychosoziale Betreuung, auch an libyschen Ausschiffungsorten und in Auffanglagern, sofern ein Zugang möglich ist. Ende September konnte ein Kernteam der EU‐Mission zur Unterstützung des integrierten Grenzmanagements in Libyen, das seine Arbeit von Tunis aus fortgesetzt hatte, nach Tripolis zurückkehren. Die Evakuierung aus Libyen ist ein wichtiger Rettungsweg. Seit September 2017 wurden über 4.000 Menschen evakuiert, davon rund 3.000 über den von der EU finanzierten Nothilfe‐ Transitmechanismus (Emergency Transit Mechanism – ETM) des UNHCR nach Niger. Ferner gab es direkte Evakuierungen nach Italien (808) und in das Nothilfe‐Transitzentrum in Rumänien (303). Von den nach Niger Evakuierten wurden inzwischen 1.856 neu angesiedelt. Die Einrichtung in Niger wird durch einen neuen ETM in Ruanda ergänzt. Ruanda erklärte sich bereit, jederzeit bis zu 500 Menschen aufzunehmen. Fast 200 wurden in den bereits nach Ruanda evakuiert. Weitere Evakuierungen sind für die kommenden Monate geplant. Ein neues EU‐Unterstützungspaket für Ruanda wird derzeit fertiggestellt. Gleichzeitig haben die nigrischen Behörden die Obergrenze für ETM‐Maßnahmen wieder auf das frühere Niveau gesenkt, sodass sie möglicherweise bis Ende des Jahres keine weiteren Evakuierten aufnehmen können. Durch gemeinsame Maßnahmen von EU und IOM wurde seit November 2015 zur Rückkehr von mehr als 49.000 Migranten aus Libyen beigetragen sowie Unterstützung und Wiedereingliederungshilfe für mehr als 76.000 Rückkehrer in ihren Herkunftsländern bereitgestellt. In diesem Rahmen wurde auch die Rettung von über 23.000 Migranten aus der Wüste Nigers unterstützt. 5. Westliche Mittelmeerroute/Atlantikroute Während Spanien 2018 mit fast 64.300 noch die höchste Zahl irregulärer Einreisen in die EU verzeichnete, ist die Zahl der Neuankömmlinge seit Februar 2019 deutlich zurückgegangen, bis Anfang Oktober auf etwa 23.600 (Rückgang um 47 % gegenüber dem Vorjahreszeitraum). Mit einer Gesamtzuweisung von 737 Mio.€ von 2014 – 2020 ist Spanien einer der Hauptempfänger von Mitteln aus dem Asyl‐, Migrations‐ und Integrationsfonds und den nationalen Programmen des Fonds für innere Sicherheit, u. a. für den Ausbau des Asylamtes und des Aufnahmesystems, die Integration von Ausländern, verstärkter Einsatz von Ausrüstung und Personal an den Grenzen sowie die Rückkehr. - 22 - Darüber hinaus wurde seit 2018 Soforthilfe in Höhe von mehr als 42 Mio. € gewährt, um den nationalen Behörden bei der Steuerung der Migrationsströme an der Südküste zu helfen, u. a. mit neuen lokalen Registrierungszentren, der Verstärkung von Guardia Civil und Polizei sowie der Unterstützung von Migranten bei ihrer Ankunft. 2019 wurden 240 Experten von der Europäischen Agentur für die Grenz‐ und Küstenwache entsandt. Marokko ist mit etwa 30 % das wichtigste Herkunftsland der in Spanien ankommenden irregulären Migranten, gefolgt von Algerien, Guinea, Mali und Côte d’Ivoire. Die große Mehrzahl der irregulären Migranten, die in Spanien ankommen, ist von Marokko aus aufgebrochen, obwohl in jüngster Zeit eine geringfügige Zunahme der Migranten aus Algerien zu verzeichnen ist. Marokko steht seit einigen Jahren als Transitland, aber auch als Zielland unter hohem Migrationsdruck. Um bei der Bewältigung dieser Lage zu helfen, hat die EU für die Zusammenarbeit im Bereich Migration insgesamt 238 Mio.€, einschließlich der Unterstützung aus dem EU‐Treuhandfonds für Afrika, bereitgestellt. Der Schwerpunkt der Unterstützung durch die EU lag auf dem Ausbau der Kapazitäten Marokkos für die Steuerung der Migrationsströme in und aus seinem Hoheitsgebiet, z. B. im Rahmen der nationalen Strategie Marokkos für Migration und Asyl mit institutioneller Unterstützung in den Bereichen Migrationssteuerung, Kapazitätsausbau und Grenzmanagement. Schutzbedürftige Migranten und Flüchtlinge erhielten Schutz und Zugang zu rechtlichem Beistand, wobei die Rechte unbegleiteter Minderjähriger im Mittelpunkt standen. Freiwillige Rückkehr und Wiedereingliederung wurden ebenfalls finanziell gefördert. 6. Bekämpfung von Schleusungen Aus dem Fortschrittsbericht: „Die Umsetzung des EU‐Aktionsplans gegen die Schleusung von Migranten und die ergänzenden operativen Maßnahmen, die der Rat im Dezember 2018 beschlossen hat, zeigen Wirkung. Das Europäische Zentrum zur Bekämpfung der Migrantenschleusung von Europol bildet eine wichtige Drehscheibe. Seine Hauptaufgabe: Polizei und Grenzbehörden bei der Koordinierung hochkomplexer grenzüberschreitender Operationen gegen die Schleusung zu unterstützen. Im Juli 2019 wurde durch eine gemeinsame Verbindungstaskforce „Migrantenschleusung und Menschenhandel“ ergänzt, in der Verbindungsbeamte aus den EU‐Mitgliedstaaten bei gemeinsamen Ermittlungen noch enger zusammenarbeiten können. In den ersten neun Monaten 2019 hat das Zentrum sieben parallele Aktionstage unterstützt, die zu 474 Festnahmen und 75 vorrangigen Strafverfahren geführt haben. Die Bekämpfung der Schleusung von Migranten ist auch ein wesentlicher Bestandteil der Maßnahmen und Operationen im Rahmen der Gemeinsamen Außen‐ und Sicherheitspolitik. Dazu gehören die Operation Sophia (EUNAVFOR MED) und die EU‐Mission zur Unterstützung des integrierten Grenzmanagements in Libyen (EUBAM Libya). Die Kriminalitätsinformationszelle der Operation Sophia hat sich beim Aufbau eines gemeinsamen Lagebewusstseins zwischen den beteiligten EU‐Agenturen und der Operation Sophia als besonders nützlich erwiesen“. 7. Rückführung, Rückkehr, Rückübernahme 2018 wurde laut Angaben von Eurostat die Ausreise von 478.155 illegal in der EU aufhältigen Personen angeordnet; davon wurden 170.380 Personen tatsächlich in ein Drittland rückgeführt. Damit liegt die Rückführungsquote für 2018 bei 36 %, was einen leichten Rückgang gegenüber 2017 (37 %) darstellt. Einige Länder, gegen deren Staatsangehörige eine große Zahl von Rückführungsentscheidungen erlassen wird, haben sehr geringe Rückführungsquoten, wie Mali (1,7 %) und Guinea (2,8 %). - 23 - 8. Verstärktes Außengrenzenkonzept Es wurde ein Soforteinsatzpool aus 1.500 Grenzschutzbeamten und weiteren Fachkräften sowie ein Ausrüstungspool für Soforteinsätze im Notfall an den Außengrenzen eines Mitgliedstaats eingerichtet. Die Agentur hat die Mitgliedstaaten an den wichtigsten Migrationsrouten sowohl an den See‐ als auch an den Landgrenzen – auch im Hinblick auf die Rückkehr/Rückführung – weiterhin operativ unterstützt. Insgesamt waren Mitte Oktober 2019 fast 1400 Grenzschutzbeamte sowie weitere Experten und Ausrüstung im Einsatz. Darüber hinaus verwendet die Agentur seit 2016 auch satellitengestützte Überwachungsverfahren im Rahmen des Copernicus‐Programms, um die EU‐Grenzen zu beobachten. IV. Malta‐Vereinbarungen zur Seenotrettung Am 23.09.2019 trafen sich die Innenminister Maltas, Frankreichs, Italiens, und Deutschlands auf Malta um – so die Vorgabe – eine Übergangslösung auf einen „Notfallmechanismus zur Verteilung von aus Seenot gerettet Migranten“ zu erarbeiten. Vereinbart wurden Maßnahmen, die verhindern sollen, dass „Schlepper“ die neue Lage ausnutzen würden. Innerhalb von vier Wochen, nachdem die Migranten an Land gekommen sein, erfolgte eine Sicherheitsprüfung. Das Asylverfahren finde weiter in den beteiligten Staaten statt. Der maltesische Innenminister Farrugia teilte mit: „Wir haben begonnen, Geschichte zu schreiben“. Minister Seehofer sagte, er sei „hochzufrieden“ über den temporären Mechanismus, durch den Italien geholfen werde. Europa habe sich an diesem Tag bewährt. Dies mache ihn glücklich. Für die Bundesregierung hatte er schon am 13. September erklärt, Deutschland werde 25 % der in Seenot geratenen Menschen aufnehmen. Seit Juli 2018 hat Deutschland der Aufnahme von 565 aus Seenot gerettet Migranten zugestimmt. Allerdings waren bis Ende Oktober 2019 nur ca. 230 in Deutschland tatsächlich eingetroffen. Nachdem im Juni Deutschland und Frankreich eine Initiative für eine „Koalition der Hilfsbereiten“ zur Seenotrettung ins Leben gerufen hatten, hieß es zunächst, auch Frankreich werde 25 % der geretteten Flüchtlinge aufnehmen Frankreich vermied es jedoch auf der Konferenz, eine konkrete Zahlenzusage zu machen. Außer Deutschland und Frankreich hatten in den meisten Fällen nur noch Luxemburg und Portugal sich zur Aufnahme bereit erklärt. Die Übergangslösung sollte zunächst für sechs Monate gelten und auf Freiwilligkeit basieren, sodass jedes teilnehmende Land auch jederzeit wieder austreten könne. Sie sei eine wesentliche Voraussetzung für die künftige gemeinsame Asylpolitik Europas, da die Migrationsfrage kein Land allein beantworten könne. Die Details, die auf Malta ausgearbeitet wurden, waren geheim und sollten im Rahmen des Treffens der EU Innenminister am 8. Oktober in Luxemburg präsentiert werden. Auch über die Verteilungsanteile sollte am 8. Oktober entschieden werden. Seehofer: „Die Höhe ist abhängig von der Zahl derer, die mitmachen“. Er meinte, dass sich etwa 12 – 14 Mitgliedstaaten beteiligen würden. Jedoch kam es bei der Sitzung am 8.Oktober zu keinen weiteren Unterzeichnungen der Vereinbarung. Spanien und Griechenland wollten ausdrücklich nicht unterzeichnen, in Belgien werde die Regierung neu gebildet, ebenso in Österreich und Portugal. Spanien steht vor Neuwahlen. Die „Visegrad“ – Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) lehnten ebenso ab wie Österreich, das mit seiner Argumentation, man dürfe sich nicht auf die zentrale Mittelmeerroute konzentrieren, sondern müsse alle Grenzen Europas beachten, einen Großteil der EU‐Innenminister hinter sich versammelte. Luxemburg, - 24- Portugal, Irland und Litauen waren weiterhin auf „informeller Basis bereit, sich an der Verteilung zu beteiligen. Zypern, Griechenland und Bulgarien stellten auf der Konferenz ein eigenes Dokument vor, dem sie darauf hingewiesen, dass die östliche Mittelmeerroute in den Diskussionen nicht ausreichend berücksichtigt worden sei (SZ, 9. Oktober, S. 7). Auf der Konferenz soll auch der Vorwurf im Raum gestanden haben, dass die vorhandenen Regeln, insbes. die Registrierung, von mehreren Mittelmeeranrainerstaaten nicht eingehalten würden und sie ankommende Migranten unregistriert weiter nach Norden reisen lassen. Weder Griechenland, noch Spanien saßen in Malta mit am Verhandlungstisch. Für die dort ankommenden Schutzsuchenden ist daher weiter keine „Verteilungslösung“ absehbar. Inzwischen hat sich gezeigt, dass die „Vereinbarung von Malta“ auch in der Praxis wenig Wert ist: Das Rettungsschiff „Ocean Viking“ rettete am 18. Oktober 104 Menschen vor der libyschen Küste und wartete zwölf Tage, bevor die italienischen Behörden dem Schiff am 30. Oktober einen Hafen zuwiesen. Italien habe sich „an einem langen Aufenthalt des Schiffs in libyschen Gewässern gestört „so etwas böte einen Anreiz für Schlepper, Boote mit Migranten aus Linien los zu schicken („Taxidienst“). Das deutsche Rettungsschiff „Alan Kurdi“ durfte zwar am 3. November mit 88 Migranten an Bord in Italien anlegen, hatte jedoch zuvor eine Woche auf die Genehmigung seitens der italienischen Regierung gewartet. Deutschland und Frankreich hatten sich zur Übernahme von 60 Migranten bereit erklärt, Portugal wollte fünf, Irland zwei aufnehmen. Deutlich wird, dass die „Vereinbarung von Malta“ eher eine besondere Art von Pressekonferenz, als eine Lösung des Problems war. Ob die Einigung in den nächsten Wochen greifen wird, muss sich noch erweisen. V. Türkei und EU Aus dem Fortschrittsbericht: Bislang wurden 97 % der Mittel, die in der EU‐Türkei – Erklärung 2016 vereinbart worden waren, zugewiesen (die Bereitstellung der vollen 6 Mrd. € wird bis Ende 2019 erwartet), wobei sich die bisherigen Auszahlungen auf insgesamt 3 Mrd. € belaufen. Zu den Projekten, die Anfang 2020 anlaufen sollen, zählen die weitere Unterstützung des Zugangs zu Gesundheitsversorgung und Bildung für Flüchtlinge, die Entwicklung der Infrastruktur für die Abfall‐ und Wasserbewirtschaftung sowie die Unterstützung der Arbeitsmarktintegration und Beschäftigung von Flüchtlingen. • Beinahe 1,7 Millionen Syrer erhalten Unterstützung zur Deckung des täglichen Bedarfs. • Mehr als eine halbe Million Flüchtlingskinder erhalten Unterstützung, damit sie in die Schule gehen können. • 4500 Türkischlehrer werden angestellt, die mehr als 250 000 Kindern Sprachunterricht erteilen sollen. • Das Impfprogramm, mit dem bislang 650 000 Flüchtlingskinder geimpft wurden, wird fortgesetzt. • Für fast 40 000 Kinder werden Schultransport‐Leistungen angeboten. • Rund 1,5 Millionen pränatale Versorgungsleistungen wurden bislang bereitgestellt. • Rund 8,1 Millionen medizinische Untersuchungen haben bereits stattgefunden. • 180 Schulen und 179 Gesundheitszentren für Migranten befinden sich im Aufbau. Die Türkei kündigte im Mai 2019 an, bis Ende des Jahres rund 100.000 afghanische Staatsangehörige in ihre Heimat zurückschicken zu wollen, und nahm mit der afghanischen Regierung Kontakt auf, um die Zahl und den Rhythmus der Rückführungen zu vereinbaren. - 25 - Die im Rahmen der Erklärung vereinbarte Umsiedlung syrischer Flüchtlinge in den EU‐Mitgliedstaaten wird von der EU‐Kommission als Erfolg bewertet, weil fast 25.000 Personen‚ die internationalen Schutz benötigen, seit April 2016 in 18 Mitgliedstaaten neuangesiedelt werden konnten. Am 24. Juli erklärte die Türkei, dass die Vereinbarung von März 2016 mit der EU suspendiert werden solle und wieder mehr Flüchtlinge von der Türkei aus in EU‐Staaten gelangen können. Grund dafür sei das die EU Gasbohrungen der Türkei in zyprischen Gewässern sanktionieren wolle. Ferner war die türkische Regierung empört darüber, dass immer noch keine Visafreiheit für türkische Staatsangehörige im Rahmen des Übernahmeabkommens von der EU akzeptiert werde. 2016 sei vereinbart worden, die Visabestimmungen zum selben Zeitpunkt in Kraft treten zu lassen wie das Rückführungsabkommen (für jeden Syrer, den die Türkei aus Griechenland zurücknimmt, könne ein syrischer Flüchtling in einen EU‐Staat überstellt werden). Das sei jedoch nicht geschehen. Deswegen‐so der Außenminister habe man das Rückführungsabkommen suspendiert. Den völkerrechtswidrigen Einmarsch türkischer Truppen in die nordsyrischen Kurdengebiete kommentierte die EU nur sehr zurückhaltend. Unmittelbare Unterstützungshandlung für die kurdische Bevölkerung wurden jedenfalls nicht publik. Ein unabgestimmter Vorschlag der Bundesverteidigungsministerin für eine internationale Friedensmission verhallte mehr oder weniger ungehört. VI. Schlussbemerkung Die gemeinsame EU‐Seenot‐Rettungsaktion „Sofia“ wurde bis März 2020 verlängert – allerdings seit März 2019 weiterhin ohne, dass Schiffe auf dem Mittelmeer fahren. Die Aufklärungsarbeit sollen Flugzeuge und Drohnen übernehmen. Wie Drohnen Menschen aus dem Meer retten sollen, erscheint bisher unklar. Im Fortschrittsbericht der Kommission heißt es: „Nach wie vor sterben aber noch Menschen auf See, und die von Fall zu Fall gefundenen Lösungen sind eindeutig nicht nachhaltig. Wenngleich eine weitere Verlängerung des Mandats der Operation bis zum 31. März 2020 zu begrüßen ist, so kann die Operation ihr Mandat derzeit nicht in vollem Umfang erfüllen, da der Einsatz ihres Schiffsbestands seit März 2019 vorübergehend ausgesetzt wurde.“ So lässt sich Scheitern positiv beschreiben. Wenn Seehofer Sätze sagt wie „Wir lassen niemanden ertrinken“ klingt das gut, nur stimmt es nicht. 7.812 Menschen erreichten bisher 2019 die EU über Malta und Italien. Nach offiziellen Zahlen kamen dabei 658 Menschen ums Leben, viele weitere ertrinken ungesehen, ohne dass die europäische Öffentlichkeit je davon erfährt. Im gesamten Mittelmeer sollen 2019 bisher 932 Menschen ums Leben gekommen sein, seit 2015 waren es mehr als 15.000. Wieder geht nichts voran in Europa im Sinne einer humanitär orientierten gemeinsamen Flüchtlingspolitik. Es ist unwürdig und letztlich auch „uneuropäisch“, dass überfüllte Schiffe mit Flüchtlingen Tage und Wochen auf dem Meer kreuzen und darauf warten müssen, einen Hafen ansteuern zu dürfen. Die EU‐Kommission kann allerdings in einem solchen Fall nicht mehr tun, als per Telefon in den Hauptstädten um Aufnahme der Flüchtlinge zu bitten. Ein Versuch der Kommission Ende 2018, eine Zwischenlösung in der Weise zu organisieren, dass ein Verteilungsplan mit festgelegten Strukturen ausgearbeitet würde, wurde seinerzeit von der Mehrheit der Staaten abgelehnt. Die Sorge ist groß, dass eine Zustimmung zu Übergangslösungen die – von allen als erforderlich angesehene – Reform des Dublin Verfahrens vorwegnehmen könnte. - 26 - Ein Verteilungsvorschlag der rumänischen Präsidentschaft war im Juni abgelehnt worden, weil einerseits Spanien befürchtete, dass darin ein Anreiz für mehr Migration liege und Griechenland und Zypern zusätzliche Hilfen für das östliche Mittelmeer forderten. Ad‐hoc‐Lösungen – so die Mehrheit – könnten die erforderlichen strukturellen Reformen des Dublin Systems verhindern. Man müsse im Übrigen zunächst dafür sorgen, dass die Mitgliedstaaten im Süden, insbesondere Griechenland und Italien, Migranten zuverlässig registrieren und Fingerabdrücke nehmen. Darüber soll nun intensiv gesprochen werden. Die Engführung auf die aus Seenot Geretteten auf der zentralen Mittelmeerroute nehme die meisten Schutzsuchenden nicht in den Blick. Bisher bestand mithin die einzige politische Entscheidung auf europäischer Ebene darin, „um die Stabilität der Staaten nicht zu gefährden“ Menschen weiterhin im Mittelmer ertrinken zu lassen, in diesem Jahr bisher ca. 1.000, in den letzten fünf Jahren insgesamt ca. 15.000. Die – immerhin vorhandene – Initiative, für sechs Monate vorläufige eine Aufnahmeregelung zu vereinbaren, zeigte bisher keinen wirklichen Erfolg auf Gemeinschaftsebene. Ach, Europa …
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