Bericht 2012/2

Prof. Dr. Holger Hoffmann
Fachhochschule Bielefeld


Europäische Entwicklungen im Asyl-, Flüchtlings- und Ausländerrecht
Juni – Oktober 2012

Anstelle eines Vorwortes: Die Presseerklärung der Rechtsberaterkonferenz vom 27. Oktober 2012

Die Rechtsberaterkonferenz fordert: Kein Missbrauch des Asylrechts durch die deutsche Politik

500.000 ermordeter Sinti und Roma wurde am 24. Oktober mit der Einweihung eines
Denkmals in Berlin gedacht. In ihrer Rede erklärte die Kanzlerin, der Völkermord an Sinti
und Roma habe tiefe Spuren hinterlassen und noch tiefere Wunden. Er mahne an die
Verpflichtung, die Würde des Menschen zu achten und zwar in jedem einzelnen Fall.
Lebende Roma sollen jedoch möglichst gar nicht erst nach Deutschland hineingelassen
werden – so die Regierungspolitik, die dazu fordert, EU-weit die Visumsfreiheit für mazedonische
und serbische Staatsangehörige wieder abzuschaffen.
Nach EU-Recht ist es nicht einfach, eine einmal eingeführte Visumsfreiheit für bestimmte
Staaten wieder aufzuheben. Die EU-Kommission muss dies formell vorschlagen und ein
ordnungsgemäßes Rechtssetzungsverfahren der Union einleiten. Ein einzelner Mitgliedstaat
kann ein solches Verfahren nicht in Gang setzen.
Das weiß auch die Bundesregierung – und will deswegen Serbien und Mazedonien auf die
nationale deutsche Liste der „sicheren Herkunftsstaaten“ (gem. Art 16a Abs. 3 Grundgesetz
ein Staat, “bei dem auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen
politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, dass dort weder politische Verfolgung
noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet“)
setzen lassen, weil sie den Status von „EU-Beitrittskandidaten“ besitzen. Von beiden
Staaten ist allerdings ebenso bekannt, dass die dort lebenden Roma in extremer Weise
diskriminiert werden, z. B. beim Zugang zu Wohnungen, gesundheitlicher Versorgung
oder Bildungseinrichtungen.
UNHCR sieht flüchtlingsrechtlichen Schutzbedarf für Roma zumindest in einzelnen Fällen
und empfiehlt deswegen, den Zugang zu entsprechenden Prüfungsverfahren nicht zu
verwehren oder zu beschränken.
Die Mitglieder der Rechtsberaterkonferenz haben auf ihrer Herbsttagung in Erkner am
26./27. Oktober 2012 die Problemlage erörtert. Sie vertreten die Auffassung, dass deutsche
Politiker nicht das Ergebnis von flüchtlingsrechtlichen Prüfungsverfahren, die im
deutschen Recht gelten, vorwegnehmen dürfen. Der Zugang zu solchen Verfahren darf
nicht von fiskalischen Erwägungen abhängig gemacht werden – andere Handlungsweisen
würden ebenso gegen europäisches Recht wie gegen die Genfer Flüchtlingskonvention
verstoßen. Verfahrenszugang ist vielmehr uneingeschränkt zu gewähren, wenn Menschen
wegen Krisensituationen in ihrem Herkunftsland sich entscheiden, in Deutschland als
Flüchtlinge Schutz zu suchen.

I. Rechtsprechung

1. EuGH-Urteil vom 05.09.2012 – C-71/11 und C-99/11

Beide Urteile ergingen auf Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts. Thema ist die Frage
religiöser Verfolgung. Betroffen waren in den Verfahren Glaubenszugehörige der Ahmadis
aus Pakistan. Die Entscheidung ist abgedruckt im Asylmagazin 10/2012, S. 339 – 342
(Auszüge). Im selben Heft des Asylmagazins erläutert Reinhard Marx ausführlich die Entscheidungsgründe und deren Bedeutung für die Beurteilung religiöser Verfolgung durch
die Rechtsprechung in Deutschland (Asylmagazin 10/2012, S. 327 – 334). Aus den Leitsätzen
der Entscheidung ergibt sich im Wesentlichen, dass nicht jeder Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit bereits als Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 10, Abs. 1 EU-Grundrechtscharta darstellt. Aufgabe der jeweiligen nationalen Behörden sei es, die persönlichen Umstände des jeweils Betroffenen zu prüfen, ob aufgrund der Religionsausübung im Herkunftsland die tatsächlich Gefahr bestehe, durch einen der in Art. 6 der Richtlinie 2004/83 (Qualifikationsrichtlinie) genannten Akteure verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden.
Ferner sei Art. 2 Buchstabe c der Richtlinie dahin auszulegen, dass eine begründete Furcht des Antragstellers vor Verfolgung vorliege, sobald nach Auffassung der zuständigen Behörden im Hinblick auf die persönlichen Umstände des Antragstellers vernünftigerweise anzunehmen sei, dass er nach Rückkehr in sein Herkunftsland religiöse Betätigung vornehmen werde, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen. Bei der individuellen Prüfung des Antrages auf Anerkennung als Flüchtling können die Behörden dem Antragsteller nicht zumuten, auf religiöse Betätigung zu verzichten.

2. EuGH – C-179/11 Urteil vom 27.09.2012 (Cimade ./. Ministerium)

Das Urteil erging als Vorabentscheidung auf eine entsprechende Anfrage des französischen
Staatsrats. Kern der Entscheidung: Die Mindestbedingungen, die die RL Aufnahmebedingungen
garantiert, müsse von den Mitgliedstaaten auch dann beachtet und im jeweils erforderlichen Umfang gewährt werden, wenn der Staat zunächst das Asylverfahren nicht selbst durchführen will, sondern einen anderen Mitgliedstaat für zuständig hält, im Rahmen des Dublin-Verfahrens das Asylverfahren durchzuführen und entsprechend eine Rücküberstellung nach dort beabsichtigt ist.
Die zweite Feststellung des Gerichtshofs: Diese Verpflichtung besteht während des Gesamtzeitraums des Aufenthaltes des Antragstellers in dem Mitgliedstaat bis der tatsächliche Transfer in den angefragten Staat durchgeführt werden kann. Die Kosten, die bis dahin dann für entsprechende Unterhaltsleistungen, medizinische Behandlungskosten etc. anfallen können, seien von dem Land des tatsächlichen Aufenthaltes und nicht von dem, das gemäß der Regeln von Dublin II das Asylverfahren letztlich durchführen muss, zu tragen.

3. Urteile des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, insbesondere betreffend
Griechenland:

– Ahmade ./. Griechenland – Nr. 50520/09 – Problematisiert wurden Art. 3, 14, 5, 6 und 18 der EMRK. Der Gerichtshof entschied, dass der Kläger, indem er für 83 Tage in zwei unterschiedlichen Polizeistationen inhaftiert war, unangemessen behandelt wurde (Verletzung von Art. 3 EMRK). Im Übrigen entschied der Gerichtshof, dass kein effektives Rechtsmittel gegen die Abschiebungshaft und insbesondere die dort herrschen den Bedingungen gegeben sei (Verletzung von Art. 3 i. V. m. Art. 13 EMRK). Im Hinblick auf das noch laufende Asylverfahren, welches im Dezember 2009 begonnen hatte, und in dem der Kläger gegen eine Abschiebungsentscheidung vorläufigen
Rechtschutz beantragt hatte, entschied der Gerichtshof zu Art. 13 und Art. 3, dass die
Verfahrensdauer zu lang sei. Dies bedeute eine Verletzung des Art. 13 insbesondere im Hinblick auf die Missstände des griechischen Asylsystems, welches den Kläger immer noch dem Risiko aussetze, abgeschoben zu werden, bevor über seinen Asylantrag endgültig von den griechischen  Institutionen entschieden worden sei.
Griechenland muss dem Kläger 10.000 Euro als Ersatz für die „nicht pekuniären Schäden“
zahlen und 2.500 Euro für Gebühren und Auslagen.

– Mahmundi u. a. ./. Griechenland – Nr. 14902/10 – afghanische Staatsangehörige
Es ging um die Art. 3, 8, 13 und 5 EMRK. Die Kläger halten sich zurzeit in Norwegen auf. Auch hier stellte der Gerichtshof wieder einen Verstoß gegen Art. 3 fest wegen der Bedingungen einer Abschiebungshaft sowie einen Verstoß gegen Art. 13 (kein effektiver Rechtsschutz) und einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 4 wegen der unzureichenden Haftbedingungen während der Zeit der Abschiebungshaft.

– Lica ./. Griechenland – Nr. 35174/03
Herr Lica ist albanischer Nationalität und hielt sich zunächst seit 2003 bis 27.2.2010 mit einer Aufenthaltserlaubnis in Griechenland auf. Als er wegen eines Krankenhausaufenthaltes verspätet erst am 20.4.2010 die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis beantragte, wurde diese abgelehnt, er sofort inhaftiert und seine Abschiebung angeordnet.
Seine Klage richtet sich gegen die Haftbedingungen auf der Polizeistation und die Unmöglichkeit,
Rechtsmittel gegen die behördlichen Maßnahmen einzulegen.
Der EGMR stellte fest, dass durch die Maßnahmen der griechischen Behörden Art. 3, 5 Abs. 1 und 4 sowie Art. 13 EMRK verletzt wurden.

– Wygylashvili ./. Griechenland, Verfahrensnr. 58164/10 – Feststellung des EGMR ebenfalls: Bruch von Art. 3 und 5 EMRK.
Hinweis: Der EGMR hat Anfang Oktober einen „praktischen Ratgeber“ für die Zulassungskriterien
im Verfahren vor dem Gerichtshof in Straßburg vorgelegt. Eine von dessen Absichten besteht darin, die Zahl unzulässiger Verfahren zu reduzieren. Inzwischen existiert auch eine interaktive „Admissibility“-Checkliste.

4. Bundesverwaltungsgerichts der Schweiz

Das Urteil des schweizerischen Bundesverwaltungsgerichts vom 02. Oktober 2012 betreffend der Möglichkeit einer Rückführung nach Malta entsprechend den Regelungen von Dublin II hatte ich bereits in den Verteiler gegeben. Das Gericht beschäftigt sich ausführlich mit der prekären Situation auf der Insel Malta für Asylbewerber und zitiert dazu Berichte verschiedener NGOs, des Europarates und von UNHCR. Übereinstimmend wird von systematischer Abschiebungshaft für Asylsuchende berichtet, nicht ausreichenden Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern. Es sei nicht einmal garantiert, dass besonders bedürftige Personen aufgenommen und ihre spezifischen Hilfebedarfe berücksichtigt würden.
Im Juli 2010 sei eine Gruppe von Somalis nach Libyen zurückgeschickt worden, wo sie gefoltert worden seien. Der Gerichtshof schließt aus den ihm bekannt gewordenen Informationen, dass Malta die fundamentalen Rechte von Asylbewerbern nicht beachtet und dass die generelle Vermutung, in Malta werde ein ordnungsgemäßes Verfahren durchgeführt, nicht aufrecht erhalten bleiben könne. Zwar führe das noch nicht zu einer grundsätzlich und immer bestehenden Gefahr unmenschlicher und erniedrigender Behandlung in Malta. Es müsse jedoch in jedem Einzelfall untersucht werden, ob die betroffene Person zur Kategorie von Personen mit besonderer Verletzbarkeit gehören und das Risiko einer Verletzung der fundamentalen Menschenrechte bestehe, wenn Malta aufgrund der dort vorhandenen Defizite im Asylverfahren und bei den Aufnahmebedingungen Abschiebungen durchführe. Insbesondere das Risiko einer Rückschiebung/Weiterschiebung nach Libyen sei erheblich. Der Gerichtshof ordnete daher an, dass die Schweiz das Asylverfahren selbst durchführen müsse.

II. Stand der Entwicklung der „Rechtsinstrumente“, insbesondere: Neufassung der Richtlinie Aufnahmebedingungen und der „Dublin III-Verordnung“

Am 19. September 2012 hat das LIBE-Komitee des EU-Parlaments, d. h. der zuständige Ausschuss für den Text, eine Dublin III-Regelung sowie den neuen Text für die Richtlinie Aufnahme-bedingungen mit einer Mehrheitsentscheidung akzeptiert. Bereits im Juli hatte COREPER, die entsprechende Arbeitsgruppe des Europäischen Rates auf Botschafterebene, einen Kompromisstext verabschiedet. Dieser wurde jetzt vom LIBE-Komitee übernommen. Die Neufassung der RL soll durch EU-Parlament und Europäischen Rat bis zum Ende dieses Jahres verabschiedet werden.

Schon in meinem ersten Bericht zu diesem Jahr hatte ich die Inhalte beider damals, d. h. im Mai, vorliegender Vorschläge referiert. Daher hier jetzt nur noch Bemerkungen zur Entwicklung seit Ende Juni 2012:

1. „Dublin III“-Verordnung

Ein erster Vorschlag zur Überarbeitung der Verordnung wurde von der Kommission bereits am 03. Dezember 2008 vorgelegt. Das EU-Parlament erörterte ihn schon 2009 und stimmte am 29. November 2010 zu. Da jedoch der Europäische Rat bisher mit den Änderungsvorschlägen nicht einverstanden ist, begann am 08. Mai 2012 der sogenannte „Trialog“ zwischen der EU-Präsidentschaft, dem Berichterstatter des Europäischen Parlaments und der Kommission mit dem Ziel, einen Kompromissvorschlag zu formulieren. Die Position von Kommission und Parlament ging zunächst insbesondere dahin, Verfahrensrechte im „Dublin-Verfahren“ für Asylantragsteller zu verbessern oder wenigstens nicht zu verschlechtern.
Die Neufassung der VO stand nicht zuletzt unter dem Eindruck der Entscheidung des EGMR vom 21.01.2011 (M.S.S. ./. Belgien und Griechenland) und des EuGH vom 21.12.2011 (C-411/10-N.S. und C-493/10-M.E).
Der jetzt vorliegende und vom LIBE-Ausschuss mit positivem Votum verabschiedete Vorschlag
ist darauf gerichtet „es unmöglich zu machen, Asylantragsteller in die Mitgliedstaaten zu überstellen, in denen ein systemischer Mangel im Bereich der Asylverfahren und der Aufnahmebedingungen herrscht mit dem Risiko unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung.“
Im Juni 2011 hatten Zypern, Malta, Italien und Griechenland zunächst versucht, in die „Dublin III-Regelung“ einzubringen, dass Mechanismen gefunden werden müssten, die Rücküberstellungen in Mitgliedstaaten ausschlössen, welche sich einem besonderen Druck auf ihre jeweiligen nationalen Asylsysteme ausgesetzt sähen. In den weiteren Verhandlungen blieb jedoch das bekannte Prinzip, dass Asylanträge im Land des ersten Zutritts behandelt werden sollen, unverändert. Aufschiebende Mechanismen sollen nur dann greifen, wenn tatsächlich „systemische Mängel“ festgestellt werden, die das Risiko von Menschenrechtsverletzungen beinhalten, nicht jedoch, wenn einzelne Länder einen besonderen Druck auf ihr nationales Asylsystem „empfinden“.
Dies kann dazu führen, dass die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen durch NGO’s und die Dokumentation gerichtlicher Entscheidungen noch stärkere Bedeutung als bisher erhalten werden, um in jenen Ländern, die Rücküberstellungen in die „problematischen Staaten“ beabsichtigen, Entscheidungen mit aufschiebender Wirkung zu erreichen.
Das Unterstützungsbüro EASO wird voraussichtlich dazu genutzt werden, Staaten, die einen besonderen Druck auf ihr Asylsystem empfinden, zu helfen. Die Neufassung der VO enthält in Art 26 eine Bestimmung, die einen Suspensiveffekt bei Rechtsmitteln, die gegen  Abschiebungs-entscheidungen eingelegt werden, grundsätzlich vorsieht.
Allerdings ist kein freier Zugang zur Prozesskostenhilfe vorgesehen – die Kommission hatte einen solchen Zugang gefordert – außerdem kann entsprechend der deutschen Praxis jetzt in allen Mitgliedstaaten ein Suspensiveffekt verweigert werden, wenn das Gericht die Auffassung vertritt, dass das Verfahren keine erkennbare Aussicht auf Erfolg hat (Art. 26, Abs. 6).
Gemäß Art. 27, Abs. 2 wird in der Dublin III-Verordnung weiterhin die Möglichkeit enthalten sein, Asylbewerber zu inhaftieren, sofern ein signifikantes Risiko besteht, dass sie andernfalls untertauchen bzw. fliehen würden. Das Parlament hatte vorgeschlagen, Abschiebungshaft
nur dann zu verhängen, wenn begründetes Risiko dafür besteht (englischer Text: „established risk“ gegenüber „significant risk“) – Letzteres wurde die Neufassung, d. h. die Schwelle für eine Inhaftierung wird geringer. Es bleibt weiterhin eine Ermessensfrage, die die jeweiligen Mitgliedstaaten beantworten müssen, was ein Risiko als „significant“ ansehen.
Das Meijers-Komitee betont in seiner Stellungnahme zur Neufassung, dass die Bestimmungen
zur Abschiebungshaft in Widerspruch stehen zu den neueren Entscheidungen des EGMR, insbesondere im Hinblick auf die Frage der Verhängung von Abschiebungshaft gegenüber Kindern und Jugendlichen, die in Einrichtungen für Erwachsene vollzogen werden kann.

2. Richtlinie Aufnahmebedingungen

Zu dieser „ältesten“ der Richtlinien im Bereich Asyl (in Kraft seit Februar 2005) gab es seitens der Kommission bereits einen ersten Überarbeitungsvorschlag am 03. Dezember 2008. Das Parlament hat sich anschließend im Mai 2009 über den Stand der Richtlinienumsetzung in den Mitgliedstaaten informiert und einen Berichterstatter eingesetzt, ohne dass dies jedoch zunächst zu Konsequenzen geführt hat. Am 01.06.2011 hat die Kommission dann einen weiteren neuen Überarbeitungs-vorschlag vorgelegt. Das EU-Parlament hatte sich mit diesem Vorschlag am 12. April 2012 befasst.
Die Neufassung erweitert zunächst den Kreis derer, die Ansprüche auf der Grundlage dieser Richtlinie stellen können: Sie gilt nun auch für Antragsteller, die „nur“ subsidiären oder internationalen Schutz i. S. d. Art 2 b, e und g der QualifikationsRL i. d. F. 13.12.11 (Flüchtlings-eigenschaft und subsidiärer Schutz) und kein Asyl beantragen.
Eine weitere Verbesserung kann darin gesehen werden, dass die RL gem. Art 3 auch Anwendung
findet auf See („territorial waters“) sowie während des Aufenthaltes in Transitzonen (von Flughäfen).
Problematisch erscheint, dass weiterhin der Zugang zum Arbeitsmarkt nach erst 9 Monaten gewährt wird (Parlament und Kommission hatten 6 Monate Wartezeit vorgeschlagen) – und dies auch nur dann, wenn – wie bisher in Art 11 Abs. 2 RL Aufnahmebedingungen geregelt – keine erstinstanzliche Entscheidung über den Asylantrag bis zu jenem Zeitpunkt vorliegt und diese Verzögerung nicht auf das Verhalten des Ast. zurückzuführen ist (Art 15).
Zulässig soll auch weiterhin eine Herabsetzung der Sozialleistungen für Asylbewerber gegenüber den sonst in einem Staat geltenden Regeln der Sozialhilfe sein (Art 17, Ziff. 5).

Hauptkritikpunkt an der neu gestalteten Richtlinie ist die ausdrückliche Einführung der Zulässigkeit von Abschiebungshaft während des Asylverfahrens, und zwar auch für Minderjährige (Präambel, Ziff. 15 – 17; Art 8 – 11) und in regulären Gefängnissen (solange wie sie nicht in Haft genommen werden nur wegen ihres Asylantrages, sondern aus anderen Gründen).


Dazu zunächst ein Hinweis: Die KRK enthält völkerrechtlich kein generelles Verbot der Abschiebungshaft für Minderjährige – was teilweise bestritten wird –

(generell ablehnend zur Abschiebungshaft für Minderjährige: Habbe, ZAR 2011, 286 (290); Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – BT-Drucksache 17/6053; Deutsches Institut für Menschenrechte – Follmar/Otto, schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung im Innenausschuss am 27.06.2011, S. 22)

sondern ermöglich in Art. 37 d KRK die Freiheitsentziehung bei einem Kind als letztes Mittel und für die kürzeste angemessene Zeit. Auch das Committee on the Rights of the Child als zuständiger Überwachungsausschuss lässt eine Inhaftierung im Rahmen eines Regel-Ausnahmeverhältnisses ausdrücklich zu

CRC – Generalcomment Nr. 6 – UN-Dokument CRC/GC/2005/6 vom 01.09.2005, §§ 61 und 62.

Ein generelles Verbot der Inhaftierung Minderjähriger ist daher jedenfalls nicht völkerrechtlich zwingend. Art. 20 Abs. 1 KRK muss allerdings bei Berücksichtigung des Kindeswohls jederzeit einbezogen werden. Dies wir i. d. R. zur Unverhältnismäßigkeit von Abschiebungshaft für Kinder und Jugendliche führen, soweit anderweitige Unterbringungsmöglichkeiten unter den Voraus-setzungen des SGB VIII angewendet werden können. Bei jeder Art der Unterbringung in staatlichem Gewahrsam oder in Einrichtungen der Jugendhilfe ist Art. 20 Abs. 1 KRK und der Vorrang des Kindeswohls zu berücksichtigen. Diese „Regel-Ausnahme“-Vorgabe wurde in § 62 Abs. 1 Satz 2 AufenthG bisher im deutschen Recht angemessen umgesetzt.
Die Kommission hatte in ihren Vorschlägen aus dem Jahre 2008 ausdrücklich die Abschiebungshaft
für unbegleitete Minderjährige verbieten wollen.

In der Neufassung der Richtlinie wird kein maximales Zeitlimit für die Abschiebungshaft festgelegt (Art. 9), sondern nur Bezug darauf genommen worden, dass sie „so kurz wie möglich“ sein solle.
Insbesondere gegen die Abschiebungshaftbestimmungen hat sich eine Gruppe von 166 NGOs an die EU-Institutionen gewandt und gefordert, dass außer außergewöhnlichen Fällen Haft für Asylbewerber nicht zulässig sein dürfe. Es sei falsch, Abschiebungshaft quasi als ein „Werkzeug des Einwanderungs-Managements“ anzuwenden.
ECRE trug insbesondere in einer Stellungnahme vor: Es gibt in der RL keine Garantien für eine automatische richterliche Überprüfung der Haftanordnung. Die Haftgründe sind sehr weit gefasst. Das könne dazu führen, dass willkürliche Inhaftierung ermöglicht wird.
Auch das Meijers-Komitee erklärte insbesondere zur Möglichkeit von Inhaftierung unbegleiteter Minderjähriger: Die Formulierung z. B. des Art. 11, Abs. 2, unbegleitete Minderjährige „shall be detained only in particular circumstances“ sei so vage, dass sich in der Praxis daraus keine zusätzlichen Sicherungen zur Vermeidung von Haft für unbegleitete Minderjährige ergäben.
Art. 23, Abs. 2 der Neufassung mag den Einfluss des EP gegenüber dem Rat zeigen: Das
EP fordert, dass das Kindeswohl Beachtung finden müsse. Das hat aber nicht dazu geführt,
Abschiebungshaft für Kinder absolut zu verbieten. In Art. 24 hat das Parlament aber immerhin den Rat überzeugt, dass einige ergänzende Vorschriften zur Position von Vertretern unbegleiteter Minderjähriger erforderlich seien, insbesondere dann, wenn Interessenkonflikte vorliegen, und wie der Vertreter den unbegleiteten Minderjährigen zu informieren hat.
Ein weiterer Kritikpunkt besteht darin, dass weiterhin zahlreiche Ermessensvorschriften gelten, die den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedliche Auslegungen ermöglichen im Hinblick auf die Rechte der dort jeweils sich aufhaltenden Asylantragsteller.
Hierzu ein Beispiel: Insbesondere im Hinblick auf die Frage, wie besonders bedürftige Personen (vulnerable persons) zu behandeln seien, wird in Art. 22 des neuen Textes ausgeführt, dass die Mitgliedstaaten feststellen sollen, ob ein Antragsteller solche besonderen Bedürfnisse hat. Sie sollen auch feststellen, welcher Art diese besonderen Bedürfnisse sind. Diese Feststellungen sollen getroffen werden „innerhalb eines vernünftigen Zeitrahmens nach dem der Antrag gestellt wurde“ (Art 22 Abs.1). Die Feststellung kann in das existierende nationale Verfahren mit „eingebaut“ werden. Im Art. 17 Abs. 2 der bisherigen Fassung der RL hieß es noch vager , die Bestimmungen betreffend besonders bedürftige Personen gelten ausschließlich für solche Personen, „die nach einer Einzelfallprüfung ihrer Situation als besonders hilfebedürftig anerkannt werden“. Nichts wurde gesagt zu den Regeln, nach denen eine solche Anerkennung zu erfolgen hat – und weiterhin wird nichts dazu gesagt.
Schon 2008 hatte die Kommission festgestellt, dass die Mehrheit der Mitgliedstaaten ein solches „Identifizierungsverfahren“ nicht anwende. Es war deswegen sowohl 2008, als auch 2011 in den jeweiligen Vorschlägen der Kommission ausdrücklich gefordert worden, dass ein besonderes Verfahren einzuführen sei, um Personen, die besonders verletzlich seien, herauszufinden und zugleich festzustellen, was ihre besonderen Bedürfnisse seien. Der jetzt verabschiedete Text hat die Feststellung, ob eine Person besonders verletzlich ist oder nicht, entfallen lassen und schreibt stattdessen nur noch vor, dass festgestellt werden müsse, ob eine Person besondere Bedürfnisse habe. Wie ein solches Feststellungsverfahren zu gestalten ist, bleibt damit weiter völlig unklar und jedem Staat überlassen. Auch die in der Praxis durchaus wichtige Frage, ob besondere Unter-bringungseinrichtungen für besonders verletzliche Personen oder Personen mit besonderen
Bedürfnissen erforderlich sind, wird durch den ergänzten Vorschlag nicht beantwortet. Bisher existieren derartige Zentren praktisch nicht.

Einschätzung: Insgesamt kann zur RL „Aufnahmebedingungen“ nicht festgestellt werden, dass die Vorschläge der Kommission aus den Jahren 2008 und 2011 umfassend aufgenommen worden wären vom Rat oder vom EU Parlament. Vielmehr sind sie weitgehend nicht beachtet worden. Zu vermuten ist daher, dass der jetzt verabschiedete Vorschlag insgesamt die Mitgliedstaaten nicht veranlassen wird, ihre bisherigen Standards zu heben. Die „zweite Phase des gemeinsamen europäischen Asylsystems“ wird deswegen der ersten sehr ähneln.
Einige „kosmetische“ Verbesserungen erfolgten mit der Neufassung der RL. Es fehlt jedoch an substantiellen Verbesserungen. Vereinbart wurde ein weicher Kompromiss zwischen Rat und Parlament. Prof. Steve Peers vertrat in seiner Stellungnahme für „statewatch“ im Juli 2012 die Auffassung, die Neufassung stelle eine „vertane Chance“ dar, Asylantragstellern in den EU-Mitgliedstaaten deutlich zu machen, dass sie mit Würde und Fairness in allen Aspekten behandelt würden, solange sie auf eine Entscheidung über ihren Antrag warten. Es gäbe viel zu viele Möglichkeiten für die Mitgliedstaaten über Ermessensvorschriften und unbestimmte Rechtsbegriffe die Antragsteller zu inhaftieren, ihnen nur geringere als die im Staat sonst übliche Sozialhilfe zuzusprechen oder ihren Zugang zum Arbeitsmarkt zu verzögern. Zugleich werde es schwerer gemacht, wegen der restriktiven Haltung zur Gewährung von Prozesskostenhilfe Entscheidungen (Art. 26 „no tangible prospect of success“), die gegen die Asylbewerber gerichtet seien, gerichtlich
überprüfen zu lassen. Dieser Einschätzung stimmt der Verfasser uneingeschränkt zu.

3. Vorschlag zur Neugestaltung der „Eurodac-Richtlinie“ (COM/2012/254)

Der neue Vorschlag sieht die Möglichkeit vor, Daten aus Eurodac abzugleichen mit Europol. Dieser Vorschlag war 2009 bereits gemacht worden, wurde aber im Rahmen der Verhandlungen um den Vertrag von Lissabon wieder aufgegeben. Die Beratungen dazu waren Ende Oktober 2012 noch nicht abgeschlossen.
Das niederländische Meijers-Komitee hatte in einer Stellungnahme vom 10. Oktober 2012 sich entschieden gegen den neuen Vorschlag gewandt. Vorgetragen wird, er missachte fundamentale Rechte von Asylsuchenden, insbesondere deren Recht auf Privatheit und Datenschutz sowie das Recht der Asylgewährung insgesamt und den Schutz des Art. 3 EMRK. Das Komitee unterstreicht, dass eine erweiterte Nutzung der Euodac-Daten das Risiko einer Stigmatisierung der Menschengruppen, insbesondere Asylantragsteller, enthält. Es empfiehlt den Euro-Parlamentariern deswegen, den Vorschlag abzulehnen.


III. Vermischte Meldungen

1. EASO

Im Mai 2010 wurde das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) geschaffen. Bis Ende Juli 2012 konnte es jedoch noch nicht die ihm zugewiesenen Aufgaben wahrnehmen, da die Organisation noch aufgebaut wurde. Aufgabe des Büros soll es sein, bei der Informations-beschaffung eine wichtige Rolle zu spielen, um Mängel in den Asylsystemen der Mitgliedstaaten zu erkennen und zu beseitigen. Es soll als „Schaltstelle in operativ-praktischen Fragen“ zwischen Experten des betroffenen Mitgliedstaates, anderen Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission fungieren. In einem ersten Schritt sollte zunächst ein kontinuierliches Monitoring der Asylsituation in den Mitgliedstaaten durchgeführt werden verbunden mit regelmäßigen Trend- und Risikoanalysen. Benötigt ein Mitgliedstaat wegen besonderer Belastungen Hilfe, kann er je nach Einzelfall finanzielle, organisatorische oder personelle Unterstützung bekommen. Das Büro hat im September sein Arbeitsprogramm für 2013 veröffentlicht. Prioritäten sind „Emergency Support“ für das Asylsystem in Griechenland und andere Mitgliedstaaten, die entsprechende „Nöte“ verspüren, Entwicklung eines Frühwarnsystems und eines Systems des „Vorbereitetseins“ (Preparedness System). Ferner soll das Büro eine Fortbildungseinrichtung für Mitarbeiter von Asylbehörden der EU-Mitgliedstaaten werden, ein gemeinsames Informationsniveau bezüglich Herkunftsländer-informationen gewährleisten und regelmäßige Berichte herausgeben.

2. Ungarn: Sicheres Drittland?

UNHCR veröffentlichte Anfang Oktober eine Stellungnahme zu Dublin-Überstellungen nach Ungarn betreffend Menschen, die zuvor einen Transit durch Serbien durchgeführt hatten. Als Ergebnis empfiehlt UNHCR, dass die Unionsstaaten keine Asylsuchenden nach Ungarn zurücksenden sollten im Rahmen des Dublin-Verfahrens, sofern diese vorher über Serbien gekommen seien. Ungarn schiebe nach Serbien ab, weil Serbien für ein sicheres Drittland gehalten werde. Außerdem – so UNHCR – sei die Durchführung des Asylverfahrens in Ungarn weiterhin problematisch. Viele Asylbewerber müssten einen weiteren Asylantrag stellen (Asylfolgeantrag), weil das vorangegangene Asylverfahren abgeschlossen sei während der Abwesenheit des Betroffenen. Ein Suspensiveffekt sei nicht automatisch mit diesen Folgeanträgen verbunden. Die meisten Antrag-steller bekämen eine Abschiebungsverfügung und würden in Abschiebungshaft genommen. UNHCR warnt davor, dass Asylbewerber, die nach Ungarn zurückgeschickt werden, in den meisten Fällen nicht gegen Abschiebung in Drittländer geschützt seien, sogar dann, wenn der Inhalt des Asylantrages nicht vor der Abschiebung geprüft und der Fall in Abwesenheit entschieden worden sei.
Das Verwaltungsgericht Stuttgart hatte bekanntermaßen in seiner Entscheidung vom April 2012 bereits festgestellt, dass ein Asylbewerber nicht nach Ungarn überstellt werden dürfe, da ihm dort menschenunwürdige Behandlung drohe (Az. A 11 K 1039/12 – VG Stuttgart).

3. Serbien: Sicheres Drittland?

UNHCR hat in einem Bericht vom August 2012 festgestellt, dass es Serbien seit 2008 nicht gelang, eine Asylprüfungsbehörde aufzubauen. Ferner würden sämtliche Nachbarländer als „sichere Drittstaaten“ – auch die Türkei – angesehen. Asylanerkennungen habe es seit 2008 nicht gegeben.

4. Entwicklungen bei ECRE/ELENA

a) ECRE hat seit Ende September einen neuen Generalsekretär: Michael Diedring, früher Anwalt in den USA, später Berater beim Aufbau der Justizsysteme in verschiedenen osteuropäischen Staaten.
b) Maria Hennessy hat ihre Tätigkeit für ELENA beendet hat und arbeitet jetzt als „ECRE Senior Legal Officer“. Ihre Nachfolgerin ist seit dem 15.09.2012 Julia Zelvenskaya (E-Mail: jzelvenskaya@ecre.org). Sie kommt aus der Ukraine und hat vor ihrer Tätigkeit bei ECRE dort als Rechtsberaterin gearbeitet. Sie arbeitet für ECRE seit 2003 und hat insbesondere an einigen Projekten mitgearbeitet, die die Flüchtlingsrechte für Personen aus Weißrussland, Moldawien, Russland und der Ukraine betrafen. Sie hat einen Mastergrad in Europäischem Recht erworben und eine ganze Reihe von Weiterbildungsmaßnahmen, insbesondere betreffend die Fragen des Schutzes von besonders verletzlichen/schutzwürdigen Flüchtlingen absolviert. Mein erster Eindruck aus der Zusammenarbeit ist, dass sie sich sehr engagiert, um die etwas komplizierte Struktur des ELENA-Netzwerkes kennenzulernen. Konkrete Initiativen sind noch nicht zu erwarten gewesen.
c) Leider wird demnächst auch die bisherige Mitarbeiterin, Markella Papadouli ELENA wieder – wie vorgesehen – nach einem Jahr verlassen. Sie hat das ELENA-Weekly-Legal-Update aufgebaut und war auch sonst im Rahmen von Anfragen zur Rechtsprechung des EuGH und des EGMR stets sehr hilfreich, auch mit kurzfristigen Informationen.
Die Stelle ist zurzeit ausgeschrieben.
(Quellen: ECRE – WEEKLY – Update, ECRE – LEGAL – WEEKLY – Update, Berichte von
„statewatch“ und Presseberichte aus der Süddeutschen Zeitung“ und dem „Weserkurier“)