Bericht 2012/1

Prof. Dr. Holger Hoffmann

FH Bielefeld

Europäische Entwicklungen im Asyl-, Flüchtlings- und Ausländerrecht

Dezember 2011 bis Anfang Juni 2012

Vorbemerkung

Statistisches: Mehr Menschen suchen Asyl in Europa – auch in Deutschland

Am 30. März 2012 veröffentlichte UNHCR einen Bericht über die Entwicklung von Asylanträgen in 44 Industriestaaten. Während 2010 noch 368.000 Anträge gestellt wurden, waren es 2011 etwa 441.300. Dies entspricht einer Steigerung von ca. 20 % innerhalb eines Jahres. Ca. 1,5 Mio. Menschen flohen aus Libyen, nur 29.000 von ihnen erhielt Asyl in Europa.

Die Statistik weist weiter aus, dass in den 27 Mitgliedsstaaten der EU insgesamt 301.000 Asylanträge im Jahr 2011 gestellt wurden. Die höchsten Antragszahlen berichteten Frankreich (56.300), Deutschland (53.300) und Italien (34.100). Malta nahm 1.890 Anträge im Jahr 2011 entgegen, was bezogen auf seine Bevölkerungszahl (417.617) bedeutet, dass Malta bei Weitem die höchste Zahl an Anträgen entgegengenommen hat. Abnehmende Antragszahlen meldeten nur Irland (von 3.865 im Jahr 2008 auf 1.290 im Jahr 2011) und die Slowakei (von 905 im Jahr 2008 auf 490 im Jahr 2011).

Bei den Zahlen für Deutschland ist zu berücksichtigen, dass tatsächlich nur 45.714 Menschen einen Asyl – Erstantrag gestellt haben, also neu eingereist sind. Auch dies sind allerdings 4.400 Flüchtlinge mehr, als noch im Jahr 2010 und zugleich der höchste Wert seit 8 Jahren. Der steigende Trend hat sich in den ersten vier Monaten 2012 fortgesetzt: 15.482 Erstanträge gegenüber 13.868 im Jahr 2011 bedeuten eine weitere Steigerung um ca. 12%.

In „Dublin-Verfahren“ wurden von Deutschland im Jahr 2011 allerdings weniger Übernahmeersuchen an andere EU – Mitgliedsstaaten gestellt (9.075 im Jahr 2011 gegenüber 9.432 im Jahr 2010). Die tatsächlichen Überstellungen an andere Mitgliedstaaten stiegen leicht an (2010: 2.847; 2011: 2.902). „Hauptzielland“ war Italien mit 635 Überstellungen.

II.     Stand der Verhandlungen zu flüchtlingsrechtlichen Verordnungen und Richtlinien

Das „gemeinsame europäische Asylsystem“ soll nach den Vorgaben des „Stockholmer Programms“ bis Ende 2012 rechtlich aufgebaut sein. Da liegt die Frage nicht ganz fern: Wie ist der Stand der Dinge ca. ein halbes Jahr vor Erreichen dieses Termins?

1.       Dublin II-Verordnung

Der Vorschlag zur Überarbeitung der Verordnung wurde von der Kommission bereits am 03. Dezember 2008 vorgelegt. Das EU – Parlament erörterte ihn schon 2009 und stimmte am 29. November 2010 zu. Da jedoch der Europäische Rat bisher mit den Änderungsvorschlägen nicht einverstanden ist, begann erst am 08. Mai 2012 der sogenannte „Trialog“ zwischen der EU-Präsidentschaft, dem Berichterstatter des Europäischen Parlaments und der Kommission mit dem Ziel, einen Kompromissvorschlag zu formulieren.

Die Position von Kommission und Parlament geht insbesondere dahin, Verfahrensrechte im „Dublin-Verfahren“ für Asylantragsteller zu verbessern oder wenigstens nicht zu verschlechtern.

Die bisher bekannt gewordenen Vorschläge des EU – Rates zielen demgegenüber darauf ab, Ausnahmen des Rechts auf persönliche Anhörung für zulässig zu erklären, wenn der Antragsteller „untergetaucht“ ist oder nach der Entscheidung ausdrücklich wünscht, in einen anderen Mitgliedsstaat überstellt zu werden, insbesondere wenn sich dort Familienangehörige oder andere Verwandte bereits aufhalten.

Garantien für unbegleitete Minderjährige sollen nach dem bisherigen Vorschlag des Rates eingeschränkt werden in der Weise, dass Minderjährige im „Dublin-Verfahren“ Erwachsenen gleichgestellt werden. Die Einzelheiten sind hier allerdings auch zwischen einzelnen Mitgliedstaaten bisher noch umstritten.

Diskutiert werden weiter die Anordnungsvoraussetzungen und die Gestaltung der Abschiebungshaft. Der Rat schlägt dazu vor, hier die ausdrückliche Bestimmung, nach der Minderjährige nicht in Abschiebungshaft genommen werden dürfen, sowie einige Bestimmungen im Hinblick auf die Gewährung von Prozesskostenhilfe während der Inhaftierung einzuschränken.

Zum Recht auf effektiven Rechtsschutz gegenüber „Rücküberstellungen“ nach dem „Dublin-Verfahren“ vertritt der Rat bisher die Position, dass eine aufschiebende Wirkung gegen die Maßnahmen nicht zwingend erforderlich sei. Formuliert wird bisher im Vorschlag des Rates „der Transfer soll durchgeführt werden in Übereinstimmung mit der Grundrechtecharta der EU sowie anderen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedsstaaten und unter Einbeziehung der relevanten Einzelfallentscheidungen des EGMR“. Was dies in der Praxis bedeuten soll, bleibt unklar, ebenso, wie die Frage, ob dieser Textvorschlag von Kommission und Parlament akzeptiert werden wird.

Ein weiterer Punkt betrifft das sogenannte „Frühwarnsystem“ und das „Krisenmanagement“. Gedacht ist hier insbesondere an Situationen wie in Griechenland, wo in einem der Mitgliedsstaaten ein effektives Asylverfahren und ein entsprechendes Schutzsystem nicht existieren. Die Einzelheiten, wie ein solches System aussehen könnte und welche Instrumente einzusetzen sind, sind jedoch bisher noch unklar und werden weiter diskutiert. Prinzipiell scheint Übereinstimmung dahingehend zu herrschen, dass ein „Monitoring-Mechanismus“, der die Situation in „kritischen Staaten“ fokussiert und Informationen an alle Mitgliedstaaten übermittelt, eingeführt werden soll.

2.       Richtlinie Aufnahmebedingungen

Zu dieser „ältesten“ der Richtlinien im Bereich Asyl (in Kraft seit Februar 2005) gab es seitens der Kommission bereits einen ersten Überarbeitungsvorschlag am 03. Dezember 2008. Das Parlament hat sich anschließend im Mai 2009 über den Stand der Richtlinienumsetzung in den Mitgliedstaaten informiert und einen Berichterstatter eingesetzt, ohne dass dies jedoch zunächst zu Konsequenzen geführt hat. Am 01.06.2011 hat die Kommission dann einen weiteren neuen Überarbeitungsvorschlag vorgelegt. Das EU – Parlament hat sich mit diesem Vorschlag am 12. April 2012 befasst. Er wird nun seit dem 08. Mai 2012 zwischen Parlament, Kommission und Rat diskutiert. Besonders umstritten sind folgende fünf Bereiche:

–       Voraussetzungen und Vollzugsbedingungen der Abschiebungshaft (hier soll nicht mehr ausgeschlossen sein, dass Minderjährige in Abschiebungshaft genommen werden dürfen unter „besonderen Umständen“ und „sofern es ihrem Wohl entspricht“).

–    Zugang zum Arbeitsmarkt: Hier schlägt der Rat eine Formulierung vor, die sinngemäß lautet, dass die Mitgliedsstaaten sicherstellen müssen, dass Asylantragsteller Zugang zum Arbeitsmarkt nicht später als 12 Monate seit der Antragstellung erhalten, sofern noch keine Entscheidung vorliegt und dieser Umstand nicht darauf beruht, dass der Antragsteller nicht mitgewirkt hat. Die Regel, nach der Unionsbürger und rechtmäßig sich aufhaltende Drittstaatsangehörige vorrangig Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen, wird vom Rat als unabdingbar aufrechterhalten. Die Kommission hatte diese Vorrangregelung gestrichen. Das Parlament hält seit 2009 einen Arbeitsmarktzugang nach 6 Monaten für geboten.

–    Materielle Aufnahmebedingungen: Nach den Vorstellungen des Rates sollen unterschiedliche soziale Sicherungssysteme für Asylbewerber und andere Ausländer weiterhin zulässig sein. Das Parlament widerspricht dem nicht grundsätzlich, will aber gesichert sehen, dass die Sozialhilfe ausreichen muss, um adäquate Unterbringung, Ernährung, Bildung und Gesundheitsfürsorge sicherzustellen.

–    Rücknahme materieller Leistungen: Nach Auffassung des Rates soll es den Mitgliedsstaaten weiterhin möglich sein, die materiellen Leistungen zu streichen oder zu reduzieren, sofern der Antragsteller nicht unverzüglich nach der Einreise in einen Mitgliedsstaat einen Asylantrag gestellt hat. Demgegenüber sieht der Vorschlag des Europäischen Parlaments nur vor, dass Möglichkeiten zu einer Reduzierung, nicht aber zum Ausschluss derartiger Leistungen vorzuziehen sei.

–       Identifizierung besonders bedürftiger Personen („vulnerable groups“): Der Textvorschlag des Rates zu Art. 22 sieht keine Verpflichtung der Mitgliedsstaaten mehr vor, spezielle Mechanismen zu etablieren, um besonders verletzliche Personen zu identifizieren. Gefordert wird lediglich noch, dass jeder Mitgliedsstaat zu der Feststellung verpflichtet ist, ob ein Antragsteller besondere Bedürfnisse hat und wenn ja, diese besonderen Bedürfnisse im Einzelnen zu bestimmen. Das Parlament besteht bisher darauf, dass ein besonderes Feststellungsverfahren in der nationalen Gesetzgebung festgelegt wird zur Identifizierung von Antragstellern mit besonderen Bedürfnissen. Für diesen Personenkreis müssten dann auch besondere (höhere) Verfahrensgarantien gelten.

3.         Asylverfahrensrichtlinie

Der erste Änderungsvorschlag der Kommission zu dieser RL stammt vom 03. Dezember 2008, ein weiterer vom 01. Juni 2011. Ein Termin für den „Trialog“ zwischen Rat, Kommission und Parlament zu dieser Richtlinie steht bisher noch nicht fest. Im April wurden einige Kompromissvorschläge der dänischen Präsidentschaft diskutiert. Der Rat legt besonderen Wert darauf, dass die Liste der Voraussetzungen für beschleunigte Verfahren erhalten bleibt, die Garantien für besonders verletzliche Personen denen der Aufnahmebedingungen entsprechen und die jeweiligen Voraussetzungen medizinische Untersuchungen, Folgeantragsverfahren, Verfahren an der Grenze und zu effektiven Rechtsmitteln im bisherigen Umfang erhalten bleiben. Das Parlament schließt sich dem Vorschlag der Kommission vom Juni 2011 an, insbesondere in Bezug auf die Konzepte zu sicheren Herkunftsstaaten und sicheren Drittstaaten und zu einer Ergänzung der Gründe für beschleunigte Verfahren.

4. „Grenzkontrollen innerhalb der EU“

 Am 08. Juni wurde der deutschen Presse ein Streit bekannt zwischen dem EU – Ministerrat, EU – Parlament und der EU – Kommission. Grund: Auf ihrem monatlichen Treffen hatten die Innenminister sich einstimmig auf einen „Evaluierungsmechanismus“ geeinigt, d.h. ein Kontrollverfahren auf der Grundlage von Art 70 EU-Vertrag mit dem die Funktion der Regeln des Schengener Abkommens überwacht und „Fehlentwicklungen“ rechtzeitig korrigiert werden können so wie darauf, dass Binnengrenzen eines oder mehrerer Mitgliedsstaaten zukünftig „als letztes Mittel“ temporär wieder kontrolliert werden dürfen, wenn eine Außengrenze der EU außer Kontrolle geraten und dadurch eine Gefahr für die innere Sicherheit und Ordnung entstanden ist: Wenn z.B. Italien einem Ansturm afrikanischer Einwanderer ausgesetzt sein sollte, darf Frankreich an der Grenze zu Italien wieder Personenkontrollen durchführen. Die Entscheidung darüber soll – wie bisher bei politischen Großereignissen oder Weltmeisterschaften – bei den betroffenen Mitgliedsstaaten liegen. Das EU-Parlament muss über diese Beschlüsse nur unterrichtet werden. Für den Fall eines „Grenzproblems“ soll allerdings der Ministerrat zunächst feststellen, dass ein solches vorliegt, bevor ein Mitgliedsstaat wieder Kontrollen einführen darf. In Fällen, in denen ein „ungewöhnlicher Einwanderungsdruck“ auf einen Staat ausgeübt werde, sollen Grenzkontrollen möglich sein für einen Zeitraum von 6 Monaten mit der Möglichkeit der Verlängerung für weitere 6 Monate. Die absolute Höchstfrist beträgt 2 Jahre. Der Rat weist ausdrücklich darauf hin, dass eine solche Maßnahme nur eingeführt werden dürfe als „letzte Möglichkeit“ und jeweils in Einklang stehen müsse mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Rechtliche Basis für die Änderung ist der Entwurf eines Kompromisstextes zur Ergänzung des Schengen-Grenzkodex (Regulation 562/2006).

Das Parlament fordert demgegenüber ein Mitentscheidungsrecht gem. Art 77 EU-Vertrag. Die EU-Kommission fordert, die Entscheidung darüber, wann ein Mitgliedsstaat seine Grenze kontrollieren darf, müsse zentral getroffen werden. Kommissarin Malmström und das Europäische Parlament beharren darauf, dass die Abgeordneten ein „Mitentscheidungsrecht“ bei der rechtlichen Umsetzung des Überwachungsmechanismus bekommen. Von einer zunächst angedachten Klage vor dem EuGH wurde inzwischen Abstand genommen, weil die Erfolgsaussicht aus Sicht des juristischen Dienstes des Parlaments gering sei: Der Rat habe genau den im Vertrag vorgesehen Mechanismus genutzt. Die Minister berufen sich rechtlich darauf, dass die Überwachung der Einhaltung von Schengen-Regeln sowie die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit laut Vertrag von Lissabon ausschließlich in der Kompetenz der nationalen Regierungen liege. Deswegen sei die Letztverantwortung bei den Mitgliedsstaaten und nicht bei den europäischen Institutionen zu verorten. Der politische Hintergrund der Auseinandersetzung ist der Wunsch von Kommission und Parlament, die Beschlusskompetenz bezüglich der Anwendung der Regeln des Schengen-Abkommens zu vergemeinschaften. Um politischen Druck auf den Rat auszuüben, hat das Parlament „in einem beispiellosen Schritt“ beschlossen, alle Gesetzesvorhaben zur inneren Sicherheit, insbesondere zur Terrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung, nicht weiter zu behandeln. Das gilt zunächst auch für die Haushaltsgesetze bzgl Frontex und Europol für 2013. Wie dieser Streit sich entwickeln wird und in welcher zeitlichen Dimension Entscheidungen fallen, war bei Abfassung des Berichts noch nicht abzusehen.

III.        Rechtsprechung

1. Urteil des EGMR vom 22.02.2011 – Nr. 27765/09: Hirsi, Jama ./. Italien

Geklagt hatten 13 Flüchtlinge aus Eritrea und 11 aus Somalia. Sie gehörten zu einer Gruppe von ca. 200 Flüchtlingen, die im Mai 2009 von Libyen auf dem Seeweg Italien erreichen wollten. Ihr Schiff wurde noch auf hoher See von der italienischen Küstenwache aufgegriffen und nach Libyen zurückgebracht. Der italienische Innenminister erklärte damals, dieses Vorgehen stehe im Einklang mit dem bilateralen Abkommen zwischen Italien und Libyen. UNHCR schätzte, dass seinerzeit Italien im Rahmen dieses Abkommens 2009 insgesamt ca. 1.200 Personen nach Libyen zurückgeschafft habe.

Der EGMR hat nun in seiner Entscheidung betont, auch auf hoher See (im Mittelmeer) bestünde kein rechtsfreier Raum, vielmehr gelte die EMRK. Eine Überstellung nach Libyen sei wegen der damals dort drohenden unmenschlichen Behandlung als Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu werten. Diese Vorschrift sei auch verletzt, weil damals schon allgemein bekannt gewesen sei, dass den Betroffenen die Rücküberstellung in ihre jeweiligen Herkunftsländer drohte.

Weiter vertrat der EGMR die Auffassung, bei der Maßnahme habe es sich um eine durch Art. 4 Protokoll Nr. 4 verbotene Kollektivausweisung gehandelt, da ohne individuelle Prüfung eine Gruppe von Menschen aus dem Geltungsbereich der EMRK gebracht worden sei.

Ferner sei Art. 13 EMRK verletzt worden, da kein rechtswirksames Rechtsmittel bestand. Italien wurde verpflichtet, an jeden Kläger 15.000 EUR als Schadensersatz zu zahlen.

2.         Rechtsprechung des EUGH zum Flüchtlingsrecht

a.)    EuGH-Urteil vom 21.12.2011 zur Dublin II-Verordnung (C- 411/10, C – 493/10)[1].

Der Fall C – 411/10 – N.S. ./. Großbritannien betraf einen afghanischen Staatsangehörigen, der im Dezember 2008 nach Griechenland einreiste und dort, ohne einen Asylantrag gestellt zu haben, inhaftiert wurde. Er trug vor, nach seiner Freilassung (nach 4 Tagen) bei dem Versuch, Griechenland zu verlassen, von der Polizei aufgegriffen und in die Türkei abgeschoben worden zu sein, wo er zwei Monate lang inhaftiert gewesen sei. Später reiste er nach Großbritannien, wo er am 12.01.2009 ankam und beantragte am selben Tag Asyl. Gegen die Entscheidung des britischen Innenministeriums, ihn nach Griechenland zurück zu überstellen, erhob er Klage.

Im Verfahren C – 493/10 waren fünf Personen mit afghanischer, iranischer und algerischer Staatsangehörigkeit beteiligt, die in Griechenland wegen ihrer illegalen Einreise festgenommen und inhaftiert wurden. Nach ihrer Freilassung reisten sie nach Irland und beantragten dort Asyl. Sie sollten daraufhin nach Griechenland im Rahmen des Dublin-Verfahrens überstellt werden. Dem hielten sie entgegen, dass Irland von der in Art. 3 Abs. 2 in der Dublin-II-Verordnung geregelten Befugnis, die Zuständigkeit für die Prüfung und Entscheidung ihrer Asylanträge zu übernehmen, Gebrauch machen müsse, weil die Verfahren und Bedingungen für Asylbewerber in Griechenland unangemessen seien.

Sowohl das britische, als auch das irische Gericht setzten die nationalen Verfahren aus und leiteten Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH ein. Im Wesentlichen ging es um die Frage, ob angesichts der Überlastung des griechischen Asylsystems die anderen Mitgliedsstaaten verpflichtet seien, die tatsächliche Einhaltung der Grundrechte im anderen Mitgliedsstaat zu überprüfen oder ob sie sich auf die Vermutung verlassen dürften, dass der andere Mitgliedsstaat seinen Verpflichtungen nachkommen werde.

Ferner sollte geklärt werden, ob dann, wenn der andere Staat die Grundrechte nicht beachte, die Pflicht zum Selbsteintritt entstehe.

Zur Frage, ob Entscheidungen eines Mitgliedsstaates das Selbsteintrittsrecht gem. Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO nicht auszuüben, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, arbeitet der EuGH heraus, dass die Mitgliedsstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 GR-Charta bei Ermessensentscheidungen dann durchführen, wenn sich die folgenden Entscheidungen aus Unionsrecht ergeben. Dementsprechend sind die Mitgliedsstaaten in Sachverhalten wie den oben geschilderten an Unionsrecht gebunden.

Weiterhin stellt der EuGH klar, dass ein Mitgliedsstaat nicht von der unwiderlegbaren Vermutung der grundrechtskonformen Behandlung von Asylbewerbern in den anderen am Dubliner Zuständigkeitssystem teilnehmenden Staaten ausgehen dürfe. Sofern dem Asylbewerber in dem „formell zuständigen Staat“ eine gegen Art. 4 GR-Charta verstoßende Behandlung drohe, dürfe vielmehr keine Überstellung durchgeführt werden.

Allerdings bestimmt der EuGH nicht ausdrücklich, anhand welcher Kriterien festzustellen ist, ob mit Art. 4 GR-Charta unvereinbare systemische Mängel in einem mitgliedsstaatlichen Asylsystem bestehen. Offen bleibt auch, welche Bedeutung dem Urteil „MSS“ (Urteil vom 15.11.2011 – C-256/11) des EGMR zukommt. Da der EuGH die Verpflichtung, gegen Art. 4 GR-Charta verstoßenen Überstellungen von einem anderen „Dublin-Staat“ zu unterlassen, ausdrücklich auf nationale Gerichte bezieht, bedeutet dies, dass in solchen Fällen die nationalen Gerichte zur Gewährung eines freiwilligen Rechtsschutzes verpflichtet sind, d. h. Art. 4 GR-Charta entfaltet in derartigen Fällen auch Verfahrensrechte.[2]

Für die deutsche Rechtslage wird daraus der Schluss gezogen, dass der nach § 34 a Abs. 2 AsylVfG vorgesehene Ausschluss des Eilrechtsschutzes mit dem Grundrechtsschutz nach EMRK und GRC nicht vereinbar und daher zu streichen sei.[3] Ebenso seien die Abschiebungsordnung nach § 34 a Abs. 1 AsylVfG und die Zustellungsnormen des § 31 Abs. 1 Satz 4 AsylVfG unvereinbar mit Unionsrecht.[4]

Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH von Dezember 2012 hat z. B. das OVG NRW mit Beschluss vom 01.03.2012 vorläufigen Rechtsschutz gem. § 80 Abs. 5 VwGO gewährt gegen eine Abschiebungsanordnung nach Italien vom 27.04.2011 (OVG Münster AB 234/12.A). Ausdrücklich wird auf S. 6 des Beschlusses ausgeführt: „Hiervon ausgehend gelangt der durch § 34 a Abs. 2 AsylVfG bestimmte prinzipielle Ausschluss vorläufigen Rechtsschutzes dann nicht zur Anwendung, wenn es durch Tatsachen gestützte und ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür gibt, dass bezogen auf den für zuständig erachteten Mitgliedsstaat nach den aktuellen Erkenntnissen über die dort bestehenden konkreten Verhältnisse das Konzept normativer Vergewisserung nicht greift (… systemische Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen …)“.

b.)Der EuGH entschied am 03. Mai 2012 (C-620/10), dass die Rücknahme eines Asylantrages, bevor der angefragte Mitgliedsstaat zugestimmt hat, den Antragsteller zurückzunehmen, den Effekt hat, dass die Dublin II-VO nicht angewendet werden kann. Der Fall betraf einen Staatsangehörigen des Kosovo, der Schweden erreichte mit einem Touristenvisum, das von der französischen Botschaft ausgestellt worden war. Er stellte einen Asylantrag, den er später wieder zurücknahm. Die schwedische Asylbehörde fragte die französische, ob der Fall auf der Basis der Dublin II-VO geregelt werden können. Der Asylantrag wurde aber zurückgenommen, bevor die französische Seite dem Rückübernahmeantrag zugestimmt hatte. Schweden rief daraufhin den EuGH an mit der Frage, ob dies dazu führe, dass die Dublin-VO nicht mehr anzuwenden sei. Das bejahte der Gerichtshof.

3.OVG Münster        

In einem Vorlageverfahren des OVG Münster an den EuGH (C-666/11) vom 30.12.2011 – (M.u.a. ./. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) werden folgende Vorlagefragen gestellt:

Kann sich ein Asylbewerber im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens über die Unzuständigkeitserklärung und die Anordnung seiner Abschiebung in den Mitgliedsstaat, in dem ein Asylantrag gestellt wurde (Ersuchen des Mitgliedsstaates), gegenüber dem zuständigen Mitgliedsstaat darauf berufen, dass die Überstellung nicht binnen der 6-Monatsfrist des Art. 19 Abs. 4 der Verordnung EG Nr. 343/2003 erfolgt und daher die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedsstaat übergegangen ist?

Ist ein – auch vorgetäuschter – Selbsttötungsversuch, dessentwegen eine Überstellung in den zuständigen Mitgliedsstaat nicht möglich ist, ein „Flüchtigsein“ im Sinne des Art. 19 Abs. 4 Satz 2 Dublin II-VO?

Kann sich ein Asylbewerber im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens über die Unzuständigkeitserklärung und die Anordnung seiner Abschiebung auf einen Zuständigkeitsübergang nach Art. 9 Abs. 2 Satz 2 VO EG 1560/2003 berufen?

Hindert eine Unterrichtung des zuständigen Mitgliedsstaates durch den ersuchenden Mitgliedsstaat, die zwar das Aussetzen der bereits organisierten Überstellung mitteilt, nicht aber den Umstand, dass die Überstellung nicht innerhalb der 6-Monatsfrist vorgenommen werden kann, den Zuständigkeitsübergang nach Art. 9 Abs. 2 Satz 2 der VO 1560/2003?

Besteht ein durch den Asylbewerber gerichtlich durchsetzbarer Anspruch darauf, dass ein Mitgliedsstaat die Übernahme der Zuständigkeit nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 der VO 343/2003 prüft und jenen über die Gründe der Entscheidung bescheidet?

Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Berichtes lag eine Stellungnahme der Generalanwaltschaft oder eine Entscheidung des EuGH noch nicht vor.

4. Bundesverwaltungsgericht der Schweiz   

Hingewiesen sei zu Dublin – Verfahren auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts der Schweiz (Urteil vom 18.05.2012 – D 6664/2011) im Verfahren eines Staatsangehörigen von Sri Lanka gegen das Bundesamt für Migration. Das Verfahren betraf eine Rücküberstellung im Rahmen des Dublin-Verfahrens von der Schweiz nach Ungarn. Ungarn akzeptierte ihn, da er zuvor in Europa mit einem von der ungarischen Botschaft ausgestellten Schengen-Visum unterwegs gewesen war. Der Betroffene war schwer traumatisiert, litt unter Kriegsverletzungen und war in hohem Maße selbstmordgefährdet. Er verbrachte einige Zeit in psychiatrischen Anstalten in der Schweiz. Er trug vor, dass er abhängig sei von seinem Cousin, der ebenfalls in der Schweiz lebe und bei dem er nach der Entlassung aus der Psychiatrie leben konnte.

Das schweizerische Bundesverwaltungsgericht kommt zwar zu der Einschätzung, dass Ungarn seine internationalen Verpflichtungen im Hinblick auf „Non-Refoulement“ einhalte und dort auch eine Grundversorgung im Hinblick auf die gesundheitliche Situation des Antragstellers gewährleistet sei. Dann zitiert der Gerichtshof aber die Entscheidungen des EGMR in den Fällen Lopko und Toure ./. Ungarn sowie einen Bericht von Proasyl zur Situation in Ungarn, nach der Dublin-Rückkehrer und auch andere Asylsuchende systematisch in (Abschiebungs-)Haft genommen werden. Das Gericht zitiert dann weiter aus dem Bericht von Proasyl, dass psychologische Versorgung im Rahmen des ungarischen Aufnahmesystems in keiner Weise den Bedürfnissen der Betroffenen entspricht. Auch schwer psychisch kranke Personen würden für Monate inhaftiert. Manche hätten ihre verschriebene Medikation selbst zu bezahlen. Das Gericht kommt zu dem Schluss, dass der Antragsteller besonders hilfsbedürftig sei und Transfer nach Ungarn mit der zu erwartenden Inhaftierung und Trennung von seinem Cousin in der Schweiz erhebliche Konsequenzen für ihn haben werde. Deswegen hält das Gericht es für einen besonderen Fall, in dem die Schweiz von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch machen müsse – zwar nicht aus einer internationalen Verpflichtung, aber ausnahmsweise aufgrund humanitärer Gründe unter Berücksichtigung des nationalen Schweizer Rechts.

5. ELENA: Weekly Legal Update

Für diejenigen, die an aktueller Rechtsprechung von EGMR und EUGH besonders interessiert sind, besteht die Möglichkeit, von ELENA das Weekly Legal Update (in englischer Sprache) kostenfrei zu abonnieren. Die Ausgabe vom 08.06.2012 ist als „Leseprobe“ zur Kenntnisnahme in der Anlage beigefügt. Referiert werden dort zwei neue Entscheidungen des EGMR (Nr. 64809/10 – Khodzamberdiyev./.Russland und Nr. 5582/10 Shakurov./.Russland). Beide betreffen Abschiebungsverfahren von Russland nach Usbekistan, die unter den Gesichtspunkten der Art. 3, 5 und 8 EMRK geprüft wurden. Referiert wird ferner ein drittes Verfahren (Nr. 60045/10 – Kozhayev ./. Russland). Es betrifft einen weißrussischen Staatsangehörigen, der nach Russland geflohen war, weil er in Weißrussland befürchtet, zum Tode verurteilt zu werden. Das Verfahren wurde unter den Aspekten Art. 3 (keine Verletzung) und Art. 5 (Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK festgestellt) betrieben.

III.        Politische Entwicklungen in einzelnen europäischen Staaten

1.         Griechenland

Die griechische Regierung begann Ende April 2012 damit, illegal eingereiste Ausländer in „geschlossene Aufnahmezentren“ unterzubringen. Diese Zentren sollen für insgesamt bis zu 30.000 Migranten zur Verfügung stehen. Der Plan für derartige Zentren war erst am 26. März 2012 vom zuständigen Minister bekannt gegeben worden. Im Wesentlichen handelt es sich bei diesen Zentren um ungenutzte frühere Kasernen, die jetzt umgebaut werden. Sie befinden sich in 10 Regionen auf dem griechischen Festland. Die EU hat 250 Mio. Euro zur Verfügung gestellt, um Umbau und Einrichtung der Zentren zu finanzieren. Nach den bisherigen Planungen wird geschätzt, dass jedes der Zentren mindestens zunächst 1.000 Migranten aufnehmen soll. Allerdings wurden Ende April 2012 erst 56 Migranten in einen Containerlager auf dem Gelände einer Polizeischule im Nordwesten Athens gebracht. Untergebracht sollen Migranten, die über keinen legalen Aufenthaltsstatus in Griechenland verfügen oder deren Asylantrag abgelehnt wurde. Die meisten Asylbewerber in Griechenland erhielten (vor der Einführung der neuen Zentren) weder einen Platz in einer Aufnahmeeinrichtung, noch irgendeine Art staatlicher Unterstützung. Ihre Bedürfnisse wurden im Wesentlichen nur von NGOs, Kirchen oder Kommunen notdürftig abgedeckt.

Am 09. April nahm das griechische Parlament einen Gesetz an, nach dem Migranten auch aus gesundheitlichen Gründen geschlossen untergebracht/inhaftiert werden können. Personen, die an Infektionskrankheiten leiden, werden in Krankenhäuser zur Behandlung überführt. Im Übrigen sollen auch die neuen Zentren genutzt werden, um „auf einem hohen Standard von Gesundheitsfürsorge und Hygiene“ operierend die Situation der Flüchtlinge in Griechenland zu verbessern. Zuvor war von der EU-Kommissarin Malmström mehrfach kritisiert worden, dass in griechischen Lagern die hygienischen und gesundheitlichen Bedingungen für Migranten nicht akzeptabel und besorgniserregend und eine Bedrohung der Menschenwürde seien.

Im Februar hat Griechenland die Konstruktion eines 12,5 km langen Zauns an der Landgrenze zur Türkei in der Region Evros fortgeführt trotz der Ablehnung der EU, diese Maßnahme kozufinanzieren. Die europäische Kommission hat das Projekt als „sinnlos“ bezeichnet. Griechenland behauptet, dass der Zaun erforderlich sei, weil diese Region das Haupteinfallstor für irreguläre Migration nach Griechenland sei. Die Kosten werden ca. 3 Mio. Euro betragen.

Am 17. Januar 2012 hatte der EGMR Griechenland verurteilt (Kammerentscheidung vom 17.01.2012 Nr. 12294/07), weil ein türkischer Asylbewerber in griechischer Haft gefoltert worden sei. Dieser Vorfall ereignete sich allerdings bereits im Juni 2001: Die Flucht des Klägers begann am 27. Mai 2001. Er war auf einem Schiff von Istanbul nach Italien gemeinsam mit 164 anderen Migranten von der griechischen Küstenwache aufgebracht worden am 30. Mai 2001. Die Vergewaltigung soll in der Nacht vom 04. auf den 05.06.2001 stattgefunden haben – die Entscheidung des EGMR datiert vom 17.01.2012, zwischen dem Verbrechen und der Verurteilung Griechenlands durch den EGMR liegen also 10 ½ Jahre. Die Passagiere wurden seinerzeit in Haft genommen im Gebäude einer Schule der Handelsmarine. Die Lebensbedingungen dort wurden als äußerst ärmlich gekennzeichnet mit nur eingeschränktem Zugang zu Toilettenanlagen, Ernährung und anderer Grundausstattung. Während dieser Unterbringung in Kreta wurde der Kläger vergewaltigt durch ein Mitglied der griechischen Küstenwache. Es wurde ihm nicht erlaubt, danach einen Arzt aufzusuchen. Ihm wurde stattdessen eine sogenannte „rosa Karte“ ausgehändigt, die bestätigte, dass er in Griechenland einen Asylantrag gestellt habe. Danach wurde er nach Athen überstellt. Er wurde aber nicht informiert über den Fortlauf seines Verfahrens und hatte keine Möglichkeit, an dem ihm betreffenden Verfahren erster Instanz teilzunehmen oder gegen die Entscheidung Rechtsmittel einzulegen.

Der EGMR entschied, dass trotz des Umstandes, dass der Täter der Vergewaltigung inzwischen von einem griechischen Strafgericht verurteilt worden war, es eine klare Unverhältnismäßigkeit gebe zwischen der Schwere der Tat und der gerichtlichen Ahndung dieses Verbrechens durch das griechische Strafrechtssystem. Der Gerichtshof entschied, dass Art. 3 durch die Vergewaltigung während der Unterbringung in einer staatlichen Einrichtung und durch einen Amtsträger verletzt worden sei ebenso wie durch die spätere Art und Weise der Verfahrensdurchführung. Griechenland wurde verurteilt, an den Kläger 50.000,– EUR als Kompensation zu zahlen.

2.         Großbritannien

Ende Februar 2012 teilte das britische Innenministerium mit, dass insgesamt ca. 2 Mio. Pfund an Kompensationszahlungen erfolgt seien an 40 minderjährige Asylantragsteller, die ohne Rechtsgrundlage als Erwachsene behandelt und in Abschiebungshaft genommen worden seien. Betroffen waren Mädchen und Jungen zwischen 14 und 16 Jahren aus Afghanistan, Iran, Sri Lanka, Nigeria, Eritrea, Uganda, Somalia und China. 2010 waren 26 Kinder als Erwachsene behandelt und entsprechend inhaftiert worden, bei denen sich später herausstellte, dass es sich tatsächlich um Kinder handelte.

3. „Vermischtes“

a.)Am 07. Mai haben 166 NGOs gemeinsam den EU-Institutionen einen Appell überbracht mit dem gefordert wird, dass eine Reihe von minimaler Verfahrenssicherungen bei der Inhaftierung von Asylantragstellern zu beachten seien und haben die baldige Umsetzung der Änderungen zur Richtlinie Aufnahmebedingungen sowie zur Dublin II-Verordnung gefordert (Der Titel: Not crossing red lines – a negotiator’s checklist on minimum detention safeguards).

b.)Am 29. März 2012 beschloss das Europäische Parlament ein „europäisches Resettlement-Programm“ für 2013. Dieses Programm soll ermöglichen, Staaten, die Resettlement durchführen, ergänzende finanzielle Zuwendungen seitens der EU zukommen zu lassen, wenn sie das Resettlement von Flüchtlingen betreiben. Die generelle Regelung soll sein, dass Mitgliedsstaaten eine Pauschalsumme von 4.000,– EUR erhalten für jede Person, die aufgenommen wird aus einem Staat, der zu den Staaten des regionalen Schutzprogrammes zählt. Die einzelnen Indikatoren, die die gemeinsamen Prioritäten für 2013 festlegen sollen, müssen noch erstellt werden.

Von Bedeutung sind insbesondere Angehörige der sogenannten „besonders verletzlichen Gruppen“. Ergänzend kann vom Europäischen Flüchtlingsfonds eine weitere Pauschalsumme von 6.000,– EUR für jede Person angefordert werden, die angesiedelt wurde. Dazu mussten die Mitgliedsstaaten bis zum 01. Mai 2012 der Europäischen Kommission die geschätzte Zahl der Flüchtlinge, die sie im Jahr 2013 aufnehmen wollen, melden. Welche Zahl von Deutschland gemeldet worden ist, war zurzeit der Abfassung dieses Berichts noch nicht bekannt.

c.)Im März wurde ein Bericht bekannt über die Aufnahmebedingungen von Flüchtlingen in Malta. Dieses hat eine internationale Juristenkommission erstellt, die Malta im September 2011 besucht hat. Die Kommission warnte, dass die Aufnahmeeinrichtungen jenseits des Maßstabes für „degrading treatment“ im Sinne von Art. 3 der EMRK verstießen, ebenso gegen Art. 1 und 4 der GR-Charta der EU, gegen Art. 7 der UN-Konvention über zivile und bürgerliche Rechte und geben Art. 16 der Konvention gegen die Folter. Weiter wird aufgefordert, seine Politik im Hinblick auf Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen zu ändern. Der zuständige maltesische Minister erklärte den Bericht als „voreingenommen und unrealistisch“.

Auch ProAsyl hatte in einem Bericht den Artikel „Out of System“ Malta kritisiert wegen des dort systematischen Einsatzes von Haft gegen Flüchtlinge und des Fehlens jeder Integrationsperspektiven. Früher oder später würden praktisch alle Flüchtlinge in Armut und Obdachlosigkeit in Malta enden. Amnesty International schloss sich in seinem Jahresreport für 2012 diesen Feststellungen an.

d.)Am 20.04. veröffentlichte ECRE/ELENA einen Forschungsbericht zur Anwendungspraxis von Art. 39 EMRK (vorläufige Maßnahmen) in Asyl und Einwanderungsfällen. Der Bericht liegt in englischer Sprache vor. Er umfasst ca. 130 Seiten und stellt die „Befolgung“ von Maßnahmen, die der EGMR gem. Art. 39 EMRK erlassen hat, durch die Staaten des Europarates dar. Er widmet sich insbesondere der Frage, ob Abschiebungsmaßnahmen tatsächlich unterbleiben, wenn eine Entscheidung des EGMR gem. Art 39 EMRK vorliegt. Die Ergebnisse zeigen, dass das keineswegs in allen Staaten des Europarates der Fall ist.

Der Bericht stellt heraus, dass in verschiedenen Bereichen Staaten die Aufforderung des EGMR im Hinblick auf die Anwendung des Art. 39 nicht befolgen, sondern Abschiebungen selbst dann durchführen, wenn ein reales Risiko für Folter oder andere unmenschliche Behandlung droht. Die Studie zeigt ferner, dass in vielen Staaten ein Mangel an effektiven nationalen Rechtsmitteln gegen Abschiebungsmaßnahmen besteht, insbesondere in Fällen von beschleunigten Verfahren, und dass ein reales Risiko der Verletzung von Art. 33 GFK besteht. Sie zeigt auch auf, dass das individuelle Recht auf Petitionen oder Zugang zu Gerichten durch zahlreiche Verwaltungsmaßnahmen auf der jeweiligen nationalen Ebene auch dann unmöglich gemacht wird, wenn nach der Rechtslage grundsätzlich Zugang zu Gerichten bestehen würde. Der Bericht enthält zahlreiche Empfehlungen an die Institutionen des Europarates.

e.)Neue Gruppe zu Fragen von Staatenlosigkeit eingeführt: Seit Kurzem existiert eine neue Gruppe unter dem Namen European Network on Statelessness (ENS). Ihr Ziel ist es, generell die Situation staatenloser Menschen nicht nur, aber auch in Europa öffentlich deutlich zu machen und sich für die Menschenrechte Staatenloser einzusetzen. Das Netzwerk unterhält eine Website (www.statelessness.eu). Koordinator ist Chris Nash, der bis 2010 für mehrere Jahre der zuständige Geschäftsführer des ELENA-Netzwerks war. Mitglied der Organisation können nicht nur nationale Vereine, Verbände oder andere Trägerorganisationen sein, sondern vielmehr auch Einzelpersonen. Zum Aufbau eines gemeinsamen Kenntnisstandes beabsichtigt das Netzwerk – ähnlich wie ELENA – Kurse anzubieten, Experten anzuhören und ein Informationsaustauschsystem zu Fragen von Staatenlosigkeit in verschiedenen europäischen Ländern durchzuführen.

Schlussbemerkung:

Deutlich wurde im Berichtszeitraum für den Bereich der Rechtsprechung, dass der EUGH seine Rolle als Gericht auch im Bereich des Flüchtlingsrechts deutlicher konturiert und dieser Sektor seiner Rechtsprechung insgesamt bedeutungsvoller geworden ist – nicht zuletzt, weil das Instrument des „Vorabentscheidungsverfahrens“ zunehmend von nationalen Gerichten genutzt wird. Wie sich das Verhältnis von EGMR und EUGH entwickeln wird und ob auf die Dauer Kompetenzstreitigkeiten gerade bei Auslegungsfragen auf der Grundlage der EMRK einerseits und der EU-Grundrechtecharta andererseits entstehen werden, bleibt abzuwarten.

Deutlich wird weiter, dass „Dublin – Verfahren“ sowohl die deutsche, als auch die europäische Rechtsprechung weiterhin erheblich beschäftigen. Ob dies sinnvoll ist angesichts der tatsächlich eher geringen Zahlen von „Rücküberstellungen“ oder ob es vernünftiger wäre, anstelle des Dublin – Systems eine ökonomische Lastenteilung („es ist einfacher, Geld umzuverteilen, als Menschen“) durchzuführen, kann durchaus gefragt werden. Die agierenden „law and order“ – Politiker werden eine positive Antwort auf diese Frage aber wohl weiterhin nicht geben. Da ist es zumindest tröstlich, vom EUGH zu erfahren, dass jedenfalls das vom Bundesverfassungsgericht 1996 erfundene Prinzip der „normativen Vergewisserung“ europarechtlich keinen Bestand hat.

Auf der politischen Ebene hat sich die tiefe Zerstrittenheit der Akteure in Rat, Kommission und Parlament im vergangenen halben Jahr mehr als deutlich gezeigt, der obige Text benennt dazu zahlreiche Beispiele. Eigentlich war vorgesehen unter der dänischen Präsidentschaft gerade die Umsetzung des „Stockholmer Programms“ im Bereich des Flüchtlingsrechts zu akzentuieren. Stattdessen streitet man nun, wer auf welcher politischen Ebene wann zuständig sein soll für die Feststellung, dass EU Grenzen wieder kontrolliert, also „dicht gemacht“ werden dürfen. Ein Beispiel für koordinierte EU –Politik, die sich ihrer humanitären Verpflichtungen und politischen Zielsetzungen bewusst ist, wird man das kaum nennen können, eher schon: Kirchturmspolitik.

Quellen: ECRE WEEKLY UPDATE und WEEKLY LEGAL UPDATE, Süddeutsche Zeitung, taz, Asylmagazin, ZAR, div. weitere Zeitungen und Zeitschriften.

Bielefeld, 15.Juni 2012

Holger Hoffmann


[1] vgl. ZAR 2012, S. 115 – 121 und Marei Pelzer, Das EUGH-Urteil vom 21.12.2011 zur Dublin II-Verordnung, in: Asylmagazin 4/2012, S. 102 ff. und: Gutachten Reinhard Marx, zu erhalten über Informationsverbund Asyl.

[2] zu weiteren Einzelheiten: vgl. Römer, ZAR 2012, S. 120 f. und Pelzer, a.a.O.

[3] Pelzer, S. 108 und Gutachten Marx

[4] Pelzer, a.a.O. und Gutachten Marx – abrufbar unter www.proasyl.de

Siehe auch: Ergänzung Bericht 2012/1